Graffiti auf bröckelnden Mauern, rotzige Kritzeleien und psychedelische Wandmalereien, liebevoll bemalte Aufzüge und bunte Wäscheleinen – in Valparaiso haust das kreative Chaos. Die chilenische Hafenstadt ist der Wirklichkeit gewordene Alptraum eines jeden Ordnungsfanatikers – und ein Place to be für alle, die sich gerne überraschen lassen.
Die Wolken haben sich wie Gebirge aus rosa Zuckerwatte aufgeplustert. Im Hafen ankern Container-Schiffe. Der Pazifik schimmert pink. Rote und gelbe Häuserfassaden leuchten im Abendlicht. Wir sind in Valparaiso, der kulturellen Hauptstadt von Chile. Doch das, worauf wir schauen, ist nicht der Hafen, sondern ein Wandgemälde von Mario Celedon Gonsales. Der Künstler steht im farbverschmierten Kittel hoch oben auf der Leiter und bearbeitet gerade die letzten weißen Flecken des Zuckerwattehimmels. Auf dem Boden liegen Kreidestifte, Tuben, Skizzenblöcke und Farbpaletten. Von den Wänden und auf Staffeleien leuchten Bilder in intensiven Farben. Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt ist nichts dagegen.
Celedon schwingt schon seit mehr als drei Jahrzehnten den Pinsel. Sein Atelier liegt weit oben im Altstadtviertel Cerro Alegre, das mit seinen Häusern aus dem 19. Jahrhundert, den gemütlichen Cafés und Kneipen ein Anziehungspunkt für Künstler, Studenten und Intellektuelle ist. Celedon malt am liebsten Szenen aus Valparaiso – verschachtelte Straßenzüge, steile und schiefe Treppen, Pavillons mit Meerblick, schwarzes Stromkabelwirrwarr, den Hafen mit ein- und ausfahrenden Schiffen und das Wahrzeichen der Stadt, die kunterbunt bemalten Aufzüge. Ein Lieblingsbild oder einen Lieblingsplatz habe er nicht, sagt der 52-jährige Künstler. Er liebe alles an Valparaiso.

Auch wir fühlten uns zu der Hafenmetropole sofort hingezogen, als wir die bunten Häuser erblickten. Das wilde Würfeldurcheinander erstreckt sich über 42 Hügel und sieht aus, als hätte ein zorniges Kind unzählige Kisten mit Bauklötzen ausgekippt. Rund 300.000 Menschen leben in dieser Hochburg der Improvisation, diesem Wirklichkeit gewordenen Alptraum aller Ordnungsfanatiker, diesem schier endlosen und erschreckend verfallen Treppenirrgarten, woran auch die ganze Farbe nichts ändert. Nicht die poppigen Graffitis, nicht die rotzigen Schmierereien, nicht die fröhlichen Wandmalereien.
Valparaiso, das Paradiestal, breitet seine Geschichte, seine Neigungen, seine Konflikte wie ein riesengroßes Bilderbuch vor seinen Besuchern aus. Als wir durch die Gassen steigen, treppauf und treppab, blickt uns von einer Wand das Konterfei von Rastafari-Messias Haile Selassie an, kommen wir an einer Häuserfront mit Salvador Allende vorbei, der ebenso wie Augusto Pinochet in Valparaiso geboren wurde, und begegnen wir Elvis Presley, der unter der nicht ganz neuen Botschaft „The King is not dead“ auf einer rostroten Fassade posiert. Wir bestaunen meterlange Gemälde, deren Detailreichtum mit Wimmelbildern konkurrieren kann, versuchen systemkritische Spraydosensprüche zu entziffern und psychedelische Wandbilder zu deuten, auf denen Strauße vor Weinbergen stolzieren und bunte Schweife vom Himmel sausen.

Und bestimmt ist auch irgendwo Chiles Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda verewigt, der in einem Haus auf dem Cerro Bellavista seine Verse schmiedete – auch eine Liebeserklärung an Valparaiso, die „Braut des Ozeans“. Auf dem Hügel ist außerdem das Museo a Cielo Abierto zu finden, ein Freilichtmuseum mit Gemälden auf Häuserwänden. Als zusätzlicher Farbtupfer taucht in den Gassen immer wieder die blau-weiß-rote Chile-Flagge auf. Sie spannt sich als Wimpelgirlanden durch Innenhöfe, hängt aus Fenstern ohne Scheiben und bauscht sich vor baufälligen Balkonen.
Valparaiso hatte nicht immer diesen Lottermädchen-Look. Ganz im Gegenteil. Noch vor zwei Jahrhunderten schwelgte die neben San Francisco wichtigste Hafenstadt des pazifischen Raums in Ruhm und Reichtum, erbaute elegante Holzvillen, schmückte sich mit Flanierpassagen und errichtete Pavillons mit Aussicht auf den Wohlstand und den Ozean. Ein schweres Erdbeben mit Tsunami und die Eröffnung des Panamakanals 1914 bereiteten den goldenen Zeiten jedoch ein jähes Ende. Erst seit einigen Jahren pflegt die Unesco-Welterbe-Stadt wieder ihre Zierde aus vergangenen Tagen. In den Holzvillen sind Boutique-Hotels und stilvolle Restaurants eingezogen, und auch die historischen Aufzüge, die sich in antiquiertem bis abenteuerlichem Zustand befinden, sollen nach und nach auf Vordermann gebracht werden.


Wir nehmen den Aufzug „El Peral“, der uns direkt zum Plaza Sotomayor in der Unterstadt befördert. Hier schlägt das kommerzielle Herz von Valparaiso, laut und hektisch. Verwaltungsgebäude, Banken, Hotels und Kaufhäuser umringen den verkehrsreichen Platz. Mittendrin erhebt sich ein klobiges Kriegsdenkmal. Am Hafen werben bunt bemalte Ausflugsboote und Shops um Touristen. Nur wenige Kilometer entfernt ragt die Skyline von Vina del Mar auf. Das Reißbrettseebad aus Glas, Beton und Stahl war anfangs ein exklusiver Sammelpunkt der Santiago-de-Chile-Schickeria, inzwischen hat es sich zu einem vornehmen Ferienort mit Spielkasino, Boutiquen und Parkanlagen ausgewachsen.
Valparaiso ist arm an Must-see-Monumenten. Und so können wir reinsten Touristengewissens schon bald wieder zurück in die bonbonbunte Welt auf den Hügeln steigen. „Wenn wir alle Treppen Valparaisos begangen haben, sind wir einmal um die Welt gereist“, schrieb Neruda. „Wie viele Treppen, wie viele Stufen, wie viele Füße auf den Stufen, wie viele Jahrhunderte von Schritten, treppauf, treppab …“.

Wir legen in dem Stufenlabyrinth viele Verschnaufpausen ein. Auf kleinen Plätzen, in Pavillons mit Pazifikblick, in lauschigen Lokalen. Die Terrasse des Restaurants „La Concepcion“ ist ein perfekter Ort, um einen Pisco Sour zu schlürfen, das chilenische Nationalgetränk aus Traubenschnaps, Zuckersirup, Limonensaft und Eiklar – sehr süß, sehr sauer und sehr hochprozentig.
Danach erscheint uns Valparaiso noch etwas bunter, das Stromkabelnetz wie ein Werk von betrunkenen Spinnen und die Treppen noch endloser. Es ist, als würden wir durch die kolorierte Version des Bildes „Treppauf Treppab“ von M. C. Escher wandeln, dem Meister der perspektivischen Unmöglichkeiten und optischen Täuschungen, in dessen Welt die Treppen niemals enden.

Fotos: pa
EIN BONBONBUNTES BILDERBUCH
Informationen zu Valparaiso gibt es beim Fremdenverkehrsamt unter www.chile.travel und unter www.ciudaddevalparaiso.cl. Das Restaurant La Conception, in dem man auch sehr gut essen kann, hat diese Adresse: www.restaurantlaconcepcion.cl.
Ich bin wirklich beeindruckt – vom blog an sich und von diesem Beitrag
Vielen Dank, das motiviert!
Toller Beitrag! Ich war im Dezember und Januar in Chile und auch ein paar Tage in Valparaiso, herrliche Stadt!
Ja, das finde ich auch. Oben auf den Hügeln gibt so viel zu entdecken!