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Botanische Weltreise im Bummeltempo


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Besichtigungsprogramm ja, aber bitte nicht zu strapaziös und mit behaglichen Cafés für den Belohnungskuchen danach: Wer sich zu diesem Touristentyp zählt, ist in Weinheim richtig. Denn in der schmucken Zweiburgenstadt an der Bergstraße liegen die Sehenswürdigkeiten dicht beisammen: mittelalterliche Türme, Fachwerk vom Feinsten und mehrere Parks namens „Grüne Meilen“.

Kerzengerade und gertenschlank stehen sie da, obwohl sie schon mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel haben. Lässt man den Blick über die rötlichen Stämme hinauf in die buschigen Wipfel schweifen, dann muss man den Kopf weit in den Nacken legen. Um diese Prachtexemplare kalifornischer Bergmammutbäume bewundern zu können, braucht man nicht etwa die weite Reise in den Bundesstaat im Westen der USA anzutreten. Es reicht schon, sich nach Weinheim im Nordwesten Baden-Württembergs zu begeben. Gleich am südlichen Rand der 45.000-Einwohner-Stadt beginnt der Exotenwald, eine rund 60 Hektar große Grünanlage mit Bäumen und Sträuchern aus aller Welt.

Der Weinheimer Schlossherr Christian Friedrich Gustav von Berckheim gründete 1872 den Exotenwald. Zu jener Zeit war es in besseren Kreisen angesagt, seinen Garten mit fremdländischen Pflanzen zu garnieren. Berckheim begnügte sich aber nicht mit einzelnen Repräsentanten importierter Baumarten. Er ließ die Gewächse jeweils gruppenweise anpflanzen. Und weil das Arboretum, wie Freiluftsammlungen von Gehölzen in der Fachsprache heißen, seither immer wieder erweitert wurde, zählt es mit mehr als 150 Laub- und Nadelbaumarten zu den größten in Europa. Das botanische Multikulti reicht von serbischen Fichten über japanische Kobushi-Magnolien bis zu den fast 60 Meter hohen Riesenmammutbäumen aus Nordamerika als dem buchstäblichen Höhepunkt des Bestandes. Im Vergleich zu ihren Artgenossen sind diese Bergmammutbäume allerdings erst grazile Spargeltarzane. In der Sierra Nevada Kaliforniens existieren bis zu 95 Meter hohe Bäume der Spezies Sequoiadendron giganteum, die im fortgeschrittenen Alter von mehr als 3000 Jahren einen Stammumfang von über 30 Metern erreichen können.

Mit den Mammutbäumen verhält es sich demnach wie mit den Menschen: Erst wachsen sie in die Länge, dann in die Breite. Vortreffliche Schatten- und Sauerstoffspender sind die Weinheimer Mammutbaumjünglinge trotzdem schon. An diesem Tag Ende Juni schützen die immergrünen Baumriesen wie überdimensionale Sonnenschirme vor der Hochsommerhitze und sorgen für eine wohltuende Luft. Berckheim wollte sein grünes Werk auf Kutschfahrten genießen, so dass man heute auf breiten Rundwegen komfortabel durch den Exotenwald flanieren kann. Detaillierte Schilder führen zu den Baumarten ferner Länder.

Warum sich die Weinheim-Besucher nicht in dieser erquickenden Oase, sondern auf dem stickigen Marktplatz ballen, ist deshalb einigermaßen schleierhaft. Man kann nur vermuten, dass sie überwiegend gemütlich veranlagt sind – also jener Touristentyp, der bereits in einem minimalen Alibibesichtigungsprogramm vollkommene Erfüllung findet und sich lieber umso ausgiebiger kulinarischen Belohnungen wie Kuchen, Kaffeespezialitäten, Eis, Schnitzel oder Wein widmet. Dazu ist der Weinheimer Marktplatz auch bestens geeignet, keine Frage. Man kann sich hier rundum verwöhnen: das Auge mit einer Kulisse aus feinsten Fachwerkfassaden und den Gaumen mit einer gastronomischen Vielfalt aus Cafés, Wirtshäusern und Weinstuben, die ein Speisenspektrum von regional bis international servieren – badisch, italienisch, spanisch, französisch. Laut Tourismuswerbung wird der Ort wegen seines mediterranen Flairs auch zum „nördlichsten Marktplatz Italiens“ verklärt. „Hier ist es köstlich zu weilen“, schwärmte schon der italophile Johann Wolfgang von Goethe über Weinheim.

Doch bei dem Menschengedränge plus sengender Sonne ist der Marktplatz höchst eingeschränkt vergnüglich. Im Zickzack muss man sich zwischen den Tischen hindurchschlängeln, die auf dem kopfsteingepflasterten Areal bis in den hintersten Winkel verteilt und bis auf den letzten Schattenplatz besetzt sind. Corona-Sicherheitsabstände zu beherzigen wird bei solchen Bedingungen zum Kunststück. Weinheim hat sich mit 15 anderen Städten Baden-Württembergs zu der Initiative „Kleinstadtperlen“ zusammengeschlossen, um besser mit großen Städtereisezielen konkurrieren zu können. Angesichts des Touristentrubels auf dem Marktplatz scheint die Stadt diese Marketingmaßnahme aber gar nicht nötig zu haben.

Weinheim ist wahrlich ein fabelhaftes Terrain für träge Touristen mit hedonistischer Gesinnung. Auf kurzen Wegen kann man die interessantesten Ecken der Stadt ganz ohne Strapazen entdecken und sich zwischendurch nach Herzenslust in Schlemmerstationen wie Eisdielen, Konditoreien und Burgschenken stärken. Die wichtigen Sehenswürdigkeiten gruppieren sich fast sämtlich unmittelbar um den zentralen Marktplatz – Bau- und Gartenkunst aus mehreren Jahrhunderten: Türme der mittelalterlichen Stadtbefestigung, Fachwerkviertel und acht Parkanlagen, die als „Grüne Meilen“ vermarktet werden. Lediglich die zwei Burgen, deretwegen Weinheim den Beinamen „Zweiburgenstadt“ trägt, erfordern ein wenig Einsatz. Bis zu der auf dem Schlossberg in 220 Metern Höhe gelegenen Burg Windeck, an deren einstige Wehrhaftigkeit jedoch nur noch eine Ruine zaghaft erinnert, marschiert man eine Viertelstunde. Sie wurde um das Jahr 1110 zum Schutz des Klosters Lorsch errichtet und im 17. Jahrhundert zerstört. Die Wachenburg hingegen, die in etwa 350 Metern Höhe bilderbuchhaft auf dem Wachenberg thront, sieht verdächtig unversehrt aus. Sie gaukelt vor, eine mittelalterliche Ritterburg zu sein, mit Torhaus, Bergfried, Palas und allem Drum und Dran, wurde aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut – nicht als Verteidigungsfestung, sondern als Begegnungsstätte des Weinheimer Senioren-Convents. Von der Burgruine Windeck dauert es noch einmal ungefähr eine halbe Stunde bis zur Wachenburg. Wegen des phänomenalen Rundblicks, der über die Oberrheinische Tiefebene und den Odenwald bis zum Pfälzer Wald reicht, lohnt die Möchtegernmittelalterburg allemal einen Besuch.

Mit viel echt historischer Bausubtanz lockt die Weinheimer Altstadt. Am unteren Ende des Marktplatzes beginnt direkt das verwinkelte Gerberbachviertel – heute mit hergerichteten Fachwerkhäusern und gurgelndem Flüsschen malerisch, früher stank es in den Gassen allerdings bestialisch. An den Ufern des Grundelbachs, der zuverlässig Wasser führte, hatten sich zahlreiche Gerber niedergelassen. Statt Romantik verströmte das Viertel einen beißenden Geruch, der sich aus der Kombination von Gerbstoffen und den Prozessen des Gerbens ergab: dem Enthaaren, Entfleischen und Walken der Tierhäute. Stattliche Häuser aus der Blütezeit der Gerberzunft im 15. und 16. Jahrhundert zeugen davon, dass diese unappetitliche und obendrein gesundheitsschädigende Arbeit offenbar immerhin recht einträglich war.

Fachwerkidylle gibt es freilich vielerorts. Ein Alleinstellungsmerkmal von Weinheim sind aber zweifelsohne die zahlreichen Gärten und Parks. Mit den Hängen des Odenwaldes als Windblocker im Rücken und der sonnenverwöhnten Rheinebene vor sich verfügt Weinheim über vorzügliche klimatische Voraussetzungen für eine vielgestaltige Gartenkultur. Zeitiger als anderswo in Deutschland hält der Frühling in der Region Einzug. Oft schon Anfang März öffnen Mandeln, Zierkirschen, Magnolien und Forsythien entlang der Bergstraße ihre Knospen. Im Sommer reifen in dem begünstigten Landstrich sogar Südfrüchte wie Feigen, Zitronen und Aprikosen.

Welche der Weinheimer Grünanlagen man zur liebsten erklärt, dürfte einzig und allein eine Geschmacksfrage sein. Blumenbegeisterte wird wohl besonders der Hermannshof mit seinen mehr als 2500 Staudensorten verzücken. Der 1983 als Forschungs- und Bildungseinrichtung eröffnete Schau- und Sichtungsgarten versteht sich als experimentelle Spielwiese für die Verwendung von Stauden aus ästhetischer und ökologischer Perspektive. Keinen klassischen botanischen Garten, sondern ein lebendiges Gartenlehrbuch sollen die Besucher erleben. Beim Spaziergang durch die Anlage kann der Blick in wechselnden Blütenmeeren baden – je nach Jahreszeit in Magnolien, Hartriegel, Tulpen oder Blauregen. Für die bunte Pracht werden jährlich rund 18.000 Blumenzwiebeln in die Erde gebracht. Bis in den Spätherbst hinein bietet der Hermannshof ein flammendes Farbenfeuerwerk. Felsenbirnen, Blumenhartriegel und Goldastern zaubern dann mit gelben Blüten und rostrotem Laub mitten in Deutschland einen „Indian Summer“ im Miniaturformat.

Flaneure mit einem Faible für Englische Gärten dürften eher den Schlosspark favorisieren. Die Anlage hat alles, was es zum Lustwandeln auf hohem Niveau braucht: elegant geschwungene Wege und Blumenbeete, tadellose Rasenflächen, einen Teich mit Fontänen, wertvolle Bäume, Skulpturenschmuck und mit der größten Libanonzeder Deutschlands sogar einen botanischen Superlativ. Ursprünglich bestand der Schlosspark aus zwei Barockgärten. Seine endgültige Gestalt erhielt er im 19. Jahrhundert durch den Exotenwalderschaffer Christian von Berckheim. Am nördlichen Ende der Anlage erstreckt sich das Weinheimer Schloss. In dem Gebäudeensemble, das eine eigenwillige Konstruktion aus klassizistischen und neugotischen Elementen ist, residierten erst die Fürsten der Kurpfalz, später Adelsfamilien wie die Berckheims und schließlich die Verwaltungsangestellten des Weinheimer Rathauses. Am südöstlichen Ende des Schlossparks ruhen die sterblichen Überreste der Berckheims in einem im byzantinischen Stil erbauten Mausoleum.

Nur ein kleiner Schlenker ist es vom Schlosspark zu dem seit 1995 bestehenden Weinheimer Heilkräutergarten. In dieser Apotheke der Natur, die auf vier Terrassen etwa 200 Arznei-, Gewürz- und Duftpflanzen sortiert nach ihrer Wirkung präsentiert, riecht es nach Salbei, Rosmarin und Lavendel. Schön anzusehen ist der Garten außerdem. Weiß, gelb, blau und violett blüht es im „Magen-Darm“-Beet, im „Herz-Lunge“-Beet und im „Leber-Galle-Pankreas-Milz“-Beet.

Wer speziell eine Passion für die Königin der Blumen hegt, dem sei ein Abstecher zu der nur fünf Minuten vom Schlosspark entfernten Rosenanlage ans Herz gelegt. Der Garten wird von Weinheimer Bürgerinnen und Bürgen ehrenamtlich gepflegt. Zwischen Mai und November kann man durch die Blütenpracht von mehr als 2000 Rosenpflanzen von 40 verschiedenen Arten promenieren – eine Augenweide in Schneeweiß, Blutrot, Barbiepink und Babyrosa.

Für alle, die es gerne etwas weitläufiger mögen und dezentes Tannengrün ansprechender als knallbunte Tulpen finden, ist der Exotenwald sicherlich die reizvollste Weinheimer Grünanlage. Erst beim genaueren Hinschauen sieht man, dass die Konstellation der Bäume eine künstliche Komposition ist. Schon derart verwachsen sind die Übergänge zwischen den Baumgruppen, dass sie täuschend natürlich wirken. Doch dann erkennt man: Südamerikanische Scheinbuchen, kalifornische Flusszedern, Korea-Tannen, und westchinesische Blauglockenbäume sind keine im Odenwald beheimateten Gehölze, sondern Einwanderer, die Freiherr Christian von Berckheim als Setzlinge einkaufte. Auf der botanischen Weltreise durch 18 Waldregionen kann man ganz ohne Maskenbehinderung würzige Luft einatmen, sich von der Gelassenheit der Baumgiganten anstecken lassen und vom hektischen Alltagsstechschritt in ein entspanntes Bummeltempo verfallen.

Wer sich an all diesen städtebaulichen und landschaftsarchitektonischen Schön- und Besonderheiten nicht sattgesehen hat, kann sich den Bauch jetzt immer noch mit Belohnungskuchen vollschlagen. Oder man fährt fort mit dem Parkprogramm. Denn Weinheim hat auch noch den Stadtgarten, den alten Friedhof und den Haganderpark.

BAU- UND GARTENKUNST AUS MEHREREN JAHRHUNDERTEN

  • Über Weinheims „Grüne Meilen“ informiert eine Broschüre, die hier heruntergeladen werden kann.
  • Alle interessanten Ecken der Stadt bündelt der Prospekt „Weinheim Sehenswert“.
  • Aktuell werden zwar keine Führungen durch Weinheim angeboten. Doch wer sich schon einmal einstimmen möchte, findet das Programm für 2021 hier.
  • Hintergrundberichte zu Weinheim liefert die Ausgabe 02/2005 der Zeitschrift „Badische Heimat“, die hier verfügbar ist.

5 Comments

  • Ein interessanter Bericht. Das hört sich fast an wie eine Aufforderung Weinheim zu besuchen. Bist du Weinheimerin? Ich muss gestehen, dass ich noch nie an der Bergstraße war und du mir jetzt ordentlich Geschmack gemacht hast. Mal sehen vielleicht klappts mal.

  • Schade dass erst Corona kommen musste bis den Leuten das Licht aufgeht: In Deutschland ist es auch ganz schön. Wünsche mir mehr Berichte über Nahziele.

  • PS: Der Artikel über Wiesbaden brachte mich erst zur Neugierde, dann zum Schmunzeln, dann zum lauten Brüllen. Die Stadt war und ist nichtssagend für mich. Langweilig. Belanglos. Irrelevant. Oberflächlich. Bedauernswert. Randnotiz. Aber der Artikel darüber – hat klasse! Differenziert. Ambivalent. Liebenswert. Biographisch. Ich bemerke es an dieser Stelle, da an gemäßer Stelle die Kommentarfunktion längst abgelaufen ist.

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