Wir hatten davon gehört, dass in Sichuan ein ganz besonderer Pfeffer wächst und wilde Pandabären durch die Bergwälder streifen. Dass es in der Provinz im Südwesten Chinas auch kolossale Weltkulturerbeschätze gibt, davon wussten wir nichts und waren hingerissen.
Mit vielen Chinesen winden wir uns den schmalen Abstieg hinunter. Dann stehen wir vor den Monsterfüßen des Buddhas von Leshan. Allein sein kleiner Zeh ist größer als ein großer Mensch. Seine Riesenhände ruhen zentnerschwer auf seinen Riesenknien, sein Kolosskopf thront tonnenschwer auf seinem Kolosskörper 71 Meter über uns, erleuchtet vom Strahlenkranz der Vormittagssonne. Es scheint, als sei der Buddha mitten in einer Meditation. Mit kerzengeradem Rücken hat er den Glückssitz eingenommen, die Augenlider halb geschlossen, den Mund zum Ansatz eines Lächelns geformt.
Es bedarf keiner besonderen spirituellen Einstellung, um bei dem Anblick von Ehrfurcht und dem Gefühl ergriffen zu werden, an Größe und Bedeutsamkeit einem Wurm zu gleichen – einem Nichts an Lebewesen, das sogleich hinüber wäre, würde sich der größte Steinbuddha der Welt aus seiner gigantischen Sandsteinloge erheben, die vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder schütteln und als Hundertmeterhüne mit seinen titanischen Tretern losmarschieren. Uns bliebe dann nur die Flucht in den Felstunnel, der allerdings schon voller Touristen steckt, oder der Sprung in den Fluss.

Von dem Gewässer heißt es, dass es einmal lebensgefährlich war. Hier, in Sichtweite der graubeigen Silhouette der chinesischen Dreimillionenkleinstadt Leshan in der Provinz Sichuan, treffen die Flüsse Min, Dadu und Qingyi aufeinander – drei mächtige Wassermassen, die sich zu einer Strömung vermengten und viele Schiffe wie Nussschalen zerschellen ließen. Um die Naturgewalten zu besänftigen, veranlasste der Mönch Hai Tong während der Tang-Dynastie den Bau eines riesigen Glücksbringers. Fast das ganze 8. Jahrhundert wurde in den rostroten Uferfelsen an dem Buddhakoloss herumgemeißelt: an den Hunderten akkurater Haarknötchen, an seinem ebenmäßigen Gesicht, an den zyklopischen Extremitäten. Und an einer Drainage, die dafür gesorgt hat, dass die Statue noch heute so blendend aussieht.
Hätte der Mönch weniger groß gedacht, wären im Laufe der Jahrhunderte wahrscheinlich nicht nur unzählige weitere Schiffe draufgegangen, sondern auch der Buddha selbst. Für den Bau wurden Unmengen von Sandstein abgetragen und im Fluss deponiert, so dass sich dessen Lauf veränderte und die Schiffbarkeit sich verbesserte. Und als viel später Mao Tsetungs Kulturrevolution folgte, die von 1966 bis 1976 über das Land rollte, da war der Buddha von Leshan wahrscheinlich zu wuchtig, als dass sich die Vergangenheitszerstörer an ihm abrackern wollten.

Von seiner Felsenloge blickt der Unesco-Welterbe-Buddha zum Unesco-Welterbe-Berg Emei, einem von vier heiligen buddhistischen Bergen in China. Und eigentlich müsste er nicht sanftmütig lächeln, sondern schreien oder weinen über den Kulturkahlschlag an den Hängen der Bergwälder: Von den ehemals über Hundert Tempeln ist weniger als ein Drittel erhalten.
Auf dem Berg Emei glänzt seit einigen Jahren eine geballte Ladung Blattgold – ein 48 Meter hoher Buddha, der sich aber, als wir nach stundenlangem Serpentinenkurven vorbei an Wasserfällen, Zypressen und Pinien an der Seilbahnstation und endlich auf dem 3.099 Meter hohen Gipfel ankommen, erst einmal in dichten Nebel hüllt. Am Aufgang zu der Besucherattraktion stehen weiße Elefanten mit sechs Stoßzähnen Spalier.

Der Protzgoldbuddha verkörpert den guten und segensreichen Bodhisattva Samantabhadra, den einst ein wohltätiger Kräutersammler hier gesichtet haben soll – nicht wissend, mit wem er es zu tun hatte. Der Kräutersammler beobachtete einen Mann, der mit einer schwarzgoldenen Krone, um die ein regenbogenfarbener Schimmer flirrte, auf einem Elefanten mit sechs Stoßzähnen ritt, der wiederum auf einem lotusblütenförmigen Podest aus weißer Jade thronte. Der Legende nach konnte der Kräutersammler den Buddha und das regenbogenfarbene Licht nur deswegen wahrnehmen, weil er reinen Herzens war.
Wir schauen uns die Tempel ringsum den vernebelten Buddha an und gelangen zu einer Brüstung, hinter der die Kalksteinfelsen fast senkrecht abfallen. Auf einem Schild steht geschrieben, dass wir doch das Leben lieben und nicht über das Geländer klettern mögen – so wie es andere schon taten, die angesichts des regenbogenfarbenen Leuchtens in Ekstase verfielen, weil sie darin die Emanation der Heiligkeit Buddhas wähnten. An den Absperrungen hängen Girlanden aus angerosteten Vorhängeschlössern – Wunschträger der Pilger wie auch die vielen Laternenlichter zu Füßen des Buddhas und die glimmenden Wälder aus Weihrauchstäbchen in den Opferschalen.


Und dann kommt ein leichter Wind auf, und dann reißt die Nebelwand auf, und dann sehen wir den Buddha in seiner ganzen, gleißend goldenen Gestalt, mit seinen zehn bekrönten Köpfen in alle vier Himmelsrichtungen blickend, auf einem Sockel aus Lotusblüten und vier Elefanten sitzend. Den Regenbogenschimmer, das „Glückslicht des goldenen Gipfels“, sehen wir leider nicht. Dafür bräuchte es eine besondere Mischung aus Nebel, Regen und Sonne – und die gibt es heute nicht.

Unsere Reise durch Sichuan hatte zunächst ganz anders begonnen, in der Provinzhauptstadt Chengdu, einer Elfmillionenmetropole mit allem, was dazugehört: Getöse, Smog, Stau, Wolkenkratzergrau, Konsumtempelglitzer und grünen Parkinseln. Und weil in Chengdu vom Alten nicht viel übrig ist, gibt es in der Stadt heute auch historisch nachempfundene Viertel – Chinaklischeekonzentrate mit geschwungenen Pagodendächern und roten Lampions, Reisblattmalern, Flötenbastlern und Pandaplüschtierverkäufern, Restaurants, Starbucks und vielen Möglichkeiten, sich fürs Familienalbum in Pose zu werfen – an den Hals eines Kupferpferdes oder in die Arme eines Dämonen aus Ebenholz zum Beispiel. Selbst die Strohhütte im Du-Fu-Park entpuppt sich als Rekonstruktion. Der Dichter soll sich hier vier Jahre lang vor Feinden versteckt und in dieser Zeit mehr als 240 Gedichte verfasst haben. Du Fu ist so etwas wie der chinesische Goethe, weshalb seine Verse noch heute Schulstoff sind.
Als wir aus Chengdu herausgefahren waren, hatte es lange gedauert, bis die letzten Hochhausgruppen hinter uns lagen, die hellgrünen Reisfelder sich mit dunkelgrünen Lotusfeldern, Gewächshäusern und Teeplantagen abwechselten. „Warenhaus des Himmels“ wird das Rote Becken von Sichuan auch genannt, weil die Ebene dank eines Bewässerungssystems sehr fruchtbar ist. Was hatten wir uns von der Region versprochen? Eigentlich nichts anderes als eine superscharfe Küche und Begegnungen mit Pandabären – beide Erwartungen hatten sich in den Chengduer Restaurants und einem Pandapark vor den Toren der Mega-City schon erfüllt. Wie grandios wir die Provinz damit unterschätzt hatten, offenbarte sich uns später auf der Reise.
Als wir die Talstation des Berges Emei erreichen, wähnen wir uns eher in der Halle eines Fernbusbahnhofs als im Entree zu einem einzigartigen Heiligtum. Rund 2,8 Millionen Besucher werden hier jährlich durchgeschleust, das sind mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Alles gehört einem staatlichen Unternehmen: die Hotels, die Busse, die Seilbahnen. Mit einer davon schweben wir zum goldenen Buddha und seiner Elefantenkompanie herauf, mit einer anderen zum Tempel Wan Nian, dem größten und ältesten am Berg.

Nur das Zirpen der Zikaden begleitet uns an den Ort der Stille und Einkehr. Zwischen den Tempelhallen steigen Weihrauchschwaden aus den Opferschalen auf, sie sollen die Wünsche der Gläubigen in den Himmel tragen. Vor einem Pavillon beugt sich ein Mönch so tief über sein Buch, als wolle er hineintauchen. Und wieder weisen Elefanten den Weg zur größten Kostbarkeit: einem Tempel mit einem fast acht Meter hohen Bronzebuddha, der auf einem 62 Tonnen schweren weißen Elefanten reitet, umringt von einer Tausendschar kleiner Goldbuddhas. Wan Nian, der Tempel der Ewigkeit, stammt aus dem 4. Jahrhundert. Das Blattgold wirkt ermattet, das Holz und die Farbe ebenso.


Damit wäre unser Verlangen nach dem alten China schon gesättigt gewesen. Doch dann kamen wir nach Sanxingdui, und alle Tempelstille und aller Goldbuddharegenbogenzauber erschien uns unwesentlich gegen die unglaubliche Geschichte der Ausgrabungsstätte. Es war an einem schönen Frühlingstag im Jahre 1929, als ein Reisbauer namens Yan Daocheng plötzlich auf einige sonderbare Jade- und Bronzegegenstände stieß. Der Reisbauer war sehr angetan von seinen Funden und beglückte damit seine Freunde und Verwandten. So zog die Kunde ihre Bahnen. Und es dauerte nicht lange, bis die Wissenschaftler kamen.
Der Reisbauer war auf einen sensationellen Schatz aus dem frühen Shu-Reich gestoßen – und damit auf den Beweis einer Jahrtausende alten Hochkultur, von der bislang niemand etwas geahnt hatte. In den folgenden Jahrzehnten wurden ringsherum Tausende weitere Funde zutage befördert – Werkzeuge und Waffen aus Jade, goldene Zepter, Ritualgegenstände, meterhohe Bronzebäume mit Vögeln in den Zweigen und dämonisch grinsende Masken mit Segelohren und Stielaugen, die sich wie Fernrohre aus den Höhlen schrauben. Wir hätten zu gerne gewusst, wie sie die Zukunft sahen.

Fotos: pa
MEGABUDDHAS, REGENBOGENLEUCHTEN UND DÄMONISCHE MASKEN
Ausgrabungsstätte Sanxingdui: www.sxd.cn
Rundreisen durch Sichuan: Ikarus Tours (www.ikarus.com) bietet eine Reise an, bei der Sanxingdui, der Buddha von Leshan und der Berg Emei besucht werden.
Weitere Informationen zu Sichuan gibt es beim Fremdenverkehrsamt von China unter www.china-tourism.de.
Nette Fotos! Doch dein Bericht hinterlässt ein ungutes Gefühl in mir. Da werden zumeist die üblichen (Vor-)Urteile bestätigt. Aber wahrscheinlich geht das nicht anders, wenn man sich so wenig auf eine Reise in die Provinz Sichuan vorbereitet, dass man von Sichuan nur den Pfeffer und die Pandas kennt. Schade! LG Ulrike
Hallo liebe China-Expertin Ulrike,
was vermisst du denn in dem Bericht, dass er bei dir ein ungutes Gefühl hinterlässt? Und welche vermeintlichen Vorurteile findest du bestätigt? Über Ergänzungen freue ich mich!
LG, die reisekorrespondentin
PS: Ich finde übrigens, dass es Vor- und Nachteile hat, sich dezidiert auf ein Reiseziel vorzubereiten. Dadurch konkretisieren sich die Erwartungen und reduziert sich die Unvoreingenommenheit bzw. die Möglichkeit, sich überraschen zu lassen. Deshalb wähle ich meist einen Mittelweg.
Für westliche Reisende, die es vermeiden wollen, in China ein Fettnäpfchen zu betreten und mit offeneren Augen durch das Reich der Mitte zu reisen, empfiehlt Ulrike den „China-Knigge“ eines chinesisch-deutschen Ehepaares, den sie auf ihrem „Bambooblog“ unter http://bambooblog.de/2015/04/27/der-china-knigge/ rezensiert hat. Vielen Dank für den Tipp!