Hüttendörfer zwischen Kameldornakazien, tanzende Kinder am Wegesrand und Naturreservate mit verwöhnten Raubkatzen: Der Norden von Namibia verzaubert mit afrikanischer Idylle in Bilderbuchqualität. Bei dem Besuch einer Schule kommt man der Realität des Landes mit der größten Kluft zwischen Arm und Reich ein Stück näher.
Morgens auf dem Büfett der Hakusembe River Lodge hatte es zwischen Backwaren, Früchten und anderen Leckereien für die Frühstücksansprüche internationaler Touristen auch Mealie-Pap gegeben – eine blasse Pampe, deren Geruch und Geschmack man als neutral charakterisieren kann. Mealie-Pap ist in weiten Teilen Namibias ein traditionelles Grundnahrungsmittel. Je nach Region wird die Speise aus Maismehl oder Mahangu, Perlhirse, zubereitet. Sie sättigt schnell, aber nicht für lange Zeit.
Und nun stehen wir vor einer Schar von Kindern, die uns mit einer Vorführung empfangen, als hätten sie sich mit High-Energy-Riegeln präpariert. Zu Trommelschlägen und Gesängen stampfen sie mit den nackten Füßen in den Sand, wackeln mit den Schultern und den Hüften, dass die Zöpfchenperücken fliegen und die Perlenröckchen wippen, schneller und noch schneller. Es sind Mädchen und Jungen der Uvhungu-Vhungu-Schule bei Rundu, die uns eine Kostprobe ihres Könnens präsentieren – Tänze, bei denen sie Flusspferde, Raubkatzen und andere wilde Tiere imitieren.
Wie jeden Morgen sind die Kinder von den umliegenden Dörfern hierher gewandert. Manche sieben Kilometer weit und viele mit leerem Magen, weil sie bitterarme oder gar keine Eltern haben. An den meisten Tagen gibt es in der Schule eine Speisung, die aus einer Portion Mealie-Pap besteht. An manchen Tagen aber auch nicht. So wie heute. Das neue Trimester hat längst begonnen, doch von der Regierung ist noch kein Mehl eingetroffen.
„Wir können nichts dagegen unternehmen“, sagt Schuldirektor Peter Vaino. „Es entzieht sich unserer Kontrolle.“ Er sitzt in seinem Büro, vor sich einen Laptop und ein Kalenderbuch. An den Wänden hängen Lehrpläne, Auszeichnungen und das Motto der Schule, „Strive for success“. Seit fünf Jahren leitet Vaino die Gesamtschule. Sein 18-köpfiges Team unterrichtet die 400 Schüler und Schülerinnen in Fächern wie Englisch, Mathematik und Geschichte, aber auch in Landwirtschaft und Rumanyo, einer im Norden von Namibia verbreiteten Bantusprache.



Seit der Einführung der Schulpflicht bis zur 7. Klasse und der Abschaffung der Gebühren für die Primary School vor drei Jahren, gehen fast alle Kinder zur Schule. Doch viele bleiben nicht bis zum Ende, weil sie bei der Farmarbeit mithelfen müssen, selbst Kinder bekommen oder die Eltern dem Schulbesuch keine große Bedeutung beimessen. Das zu ändern hat sich Marcus Kamburu zum Ziel gesetzt. Der 35-Jährige ist Sekretär der Gemeinde Mayana und zugleich so etwas wie ein Sozialarbeiter. Er unterstützt die Familien bei Behördengängen, beispielsweise bei der Beantragung von Waisenrente. Und er leistet Überzeugungsarbeit, dass Bildung der Schlüssel für eine bessere Zukunft ist.
Auf dem Weg zu seinem Zuhause durch Felder mit verdorrten Hirsepflanzen erzählt Marcus von seiner großen Liebe Christina und den gemeinsamen Kindern, einer Tochter und einem Sohn. Sein 93-jähriger Vater Gabriel habe 24 Kinder von mehreren Frauen. Der Vater, den Marcus für die Gäste herbeiwinkt, korrigiert die Zahl der Nachkommen leicht nach oben: Um die 30 seien es wohl. Marcus trägt ein T-Shirt des deutschen Logistikunternehmens Rhein-Cargo und Jeans, der Vater einen Nadelstreifenanzug zu rosa Hemd und mintgrünem Hut, in der einen Hand einen Spazierstock, in der anderen ein Kofferradio.
Gabriel bewohnt eine neue Hütte aus silbernem Wellblech, die sich tagsüber rasch erhitzt, die Wärme aber nicht speichert und in den Nächten abgibt wie die traditionellen Rundhäuser aus Lehm und Stroh. Viele Familien der Gegend leben noch in Rundhütten. Manche Dörfer haben nur den Busch als Toilette, andere Plastikkabäuschen mit Plumpsklos, die von weitem wie Mülltonnen aussehen, so winzig sind sie.
Marcus wohnt unweit des Vaters mit seiner Frau und den Kindern in einem unverputzten Steinbungalow, drumherum ein Zaun aus Stroh. Im Wohnraum pinnt ein Foto von Jonas Savimbi, dem Gründer und Anführer der antikolonialen Bewegung UNITA in Angola, die ihre Rebellen mit Blutdiamanten finanzierte. Ein abschreckendes Beispiel für sich und seine Kinder, sagt Marcus. Jahrzehntelang währte der Bürgerkrieg in der nördlichen Nachbarrepublik, die gleich hinter Rundu am anderen Ufer des Okavangos liegt.




Wir haben unsere Reise in den Norden von Namibia in der Hauptstadt Windhoek begonnen. Am Flughafen nimmt uns Marion Schnegelsberger mit festem Händedruck und perfektem Deutsch in Empfang, eine große Frau mit blonden Locken, vom Hut bis zu den Boots auf Outdoor eingestellt. Ihre Familie lebt in dritter Generation in Namibia, seit mehr als 20 Jahren begleitet sie Reisende durch das südliche Afrika. Marion gehört zu diesen Menschen, auf deren Fähigkeiten man vom ersten Augenblick an vertraut. Und als Guide in Namibia braucht man viele Talente.
So wird Marion auf unserer Tour unter anderem in folgenden Rollen auftreten: als Food-and-Beverage-Managerin, die dafür sorgt, dass uns selbst in den einsamsten Landstrichen zu keinem Zeitpunkt hungert oder dürstet; als Busfahrerin, die auf langen Etappen auch mal unseren Fahrer Helmut ablöst und mit ihm das Fahrzeug, als es sich in einer Sandkuhle festsetzt, geschickt wieder herausmanövriert; als Improvisatorin, die unsere Bustür kurzerhand mit ihrem Gürtel fixiert, als diese irgendwann nicht mehr schließen will; als Sanitäterin, als sich zwei aus unserer Gruppe bei Stürzen verletzen; als Unterhalterin, die uns die Busfahrten mit Geschichten verkürzt, etwa mit der Anekdote von dem deutschen Ehepaar, das sich aus Angst vor Moskitos die Hemd- und Hosenbeine mit Paketband zugeklebt hatte.
Und Marion referiert über politische, geschichtliche und gesellschaftliche Themen. Darüber, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Namibia weiter auseinandergeht als in den meisten anderen Ländern. Dass fast die Hälfte der Menschen unter der Armutsgrenze lebt. Dass die HIV-Rate eine der höchsten weltweit ist. Dass viele Mädchen schon im Schulalter schwanger werden. Dass sich manches auch zum Besseren gewandelt hat, seit das südwestafrikanische Land nach 100 Jahren Fremdbestimmung 1990 die Unabhängigkeit erlangte. Zum Beispiel das Bildungssystem. So ist die Analphabetenquote in der namibischen Bevölkerung auf rund zehn Prozent zurückgegangen.
Windhoek liegt schon einige Stunden hinter uns. Schnurgerade zieht sich die Straße in den Horizont. Akazien, Makalani-Palmen und Termitenhügel rechts und links. Dann und wann begegnet uns motorisierter Gegenverkehr oder tierischer Querverkehr – Autos, Geländewagen, Zebras, Warzenschweine, Bärenpaviane. Einmal sehen wir ein Wattewölkchen, das wie auf einer Kindergartenbastelarbeit einsam am ultrablauen Himmel klebt. Worüber wohl die Namibier smalltalken? Bestimmt nicht übers Wetter. Oder doch? Über dieses und jenes einsame Wattewölkchen und über Temperaturschwankungen zwischen heiß und sehr heiß, die Mitteleuropäer nur als extrem heiß wahrnehmen? Der Norden von Namibia gilt als eine der regenreichsten Gegenden des Landes. Zwischen Mai und September, dem Winter in der südlichen Hemisphäre, fällt hier trotzdem kein Tropfen.
Gegen Mittag pausieren wir im Okonjima Nature Reserve. In dem privaten Schutzgebiet können wir uns davon überzeugen, wie fürsorglich die Ranger der AfriCat Foundation mit ihren Schützlingen umgehen. Die Stiftung betreibt eines der weltweit größten Programme zur Rettung von Geparden und Leoparden – inklusive Forschungsstation, Tierklinik und Umwelterziehungskursen für Kinder. Auf einer Pirschfahrt begegnen uns wohlgenährte Raubkatzen mit glänzenden Fellen.
Kurz bevor das Farbspektakel der Sonne beginnt, die ihren Pinsel Morgen für Morgen und Abend für Abend verschwenderisch in Gold, Orange und Rosa tunkt, taucht in der Ferne ein Tafelberg auf. Er sieht wie ein versteinerter Schokoladenkuchen aus, zu Urzeiten von Riesenhand gebacken und auf die Ebene gestürzt. Es ist der Waterberg, 200 Meter hoch, 48 Kilometer lang, fast 15 Kilometer breit. Am 11. August 1904 trieben deutsche Schutztruppen das Volk der Herero von hier in die Wüste Omaheke. Generalleutnant Lothar von Trotha hatte befohlen, Männer, die umdrehen wollten, zu erschießen, und Frauen und Kinder zurückzudrängen. Mehr als 65.000 Herero kamen ums Leben – durch Verdursten oder später bei Zwangsarbeit in Lagern. Nur den wenigsten gelang die Flucht in die britische Kolonie Betschuanaland, dem heutigen Botswana. Historiker sprechen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.
Zu Füßen des Bergmassivs erinnert ein Friedhof an die Schlacht. Die Namen der deutschen Soldaten stehen auf weißen Kreuzen und Grabsteinen. Für die Herero-Krieger gibt es eine Plakette. Wir verbringen eine Nacht im Waterberg Resort. Das Restaurant befindet sich in einem Gebäude, das zur Zeit von Deutsch-Südwestafrika ein Polizeiposten war. Am Waterberg legen viele Touristen einen Zwischenstopp ein und schnuppern dort in das brutalste Kapitel deutscher Kolonialgeschichte hinein. Die meisten fahren danach weiter zum Etosha-Nationalpark, dem größten Naturschutzgebiet Namibias.




Unser nächstes Etappenziel heißt Rundu. Die Route führt über Otjiwarongo, was in der Herero-Sprache „schöner Platz der fetten Rinder“ bedeutet. Als wir uns dem Städtchen nähern, erblicken wir eben solche Tiere. Aus Otjiwarongo stammt Hage Geingob, seit März 2015 der dritte Präsident von Namibia. Wie seine Amtsvorgänger gehört er SWAPO an. Geingobs Prioritäten seien Armutsbekämpfung, Arbeitsbeschaffung, Wirtschaftswachstum und die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen, zählt Marion auf. Auch habe er die Abschaffung der Gebühren für die weiterführende Schule auf die Agenda gesetzt.
Am Straßenrand sind nun immer mehr Menschen zu sehen: Kinder mit Kanistern, die auf dem Weg zum Wasserholen immer mal wieder ein Tänzchen einlegen. Männer auf klapprigen Fahrrädern. Frauen, die ihre Fracht auf dem Kopf balancieren – Säcke, Gefäße oder Holzbündel. Die meisten der 2,1 Millionen Namibier leben in den nördlichen Regionen des Landes. Pünktlich zum Sonnenuntergang erreichen wir die Hakusembe River Lodge bei Rundu. Ruckzuck färbt sich der Himmel orange und rosa, erst pastellzart, dann flammend, während die Sonne als glühende Goldmedaille in der Wildnis hinter dem Fluss verschwindet. Nur wenige Minuten schimmert das aurablaue Licht der Dämmerung, dann knipst schon die Nacht ihre Notbeleuchtung an, die in Namibia gar nicht spärlich ist: Sterne über Sterne.

Am nächsten Vormittag treffen wir Marcus, der uns zur Uvhungu-Vhungu-Schule bringt. Direktor Vaino sagt, dass es seiner Schule an so ziemlich allem mangele: an Toiletten, Hygiene, Mehl für Mealie-Pap und Schulmaterial. Wir wurden vom Reiseveranstalter gebrieft und haben Sachspenden mitgebracht – Kreide, Stifte, Blöcke, Spielsachen. Der Unterricht beginnt immer morgens um sieben und endet gegen 14 Uhr. Danach gibt es eine Hausaufgabenbetreuung, denn manche Kinder haben zuhause weder Tisch noch Stuhl.
Die erste Klasse hat gerade Englisch-Unterricht. Ab der vierten Klasse findet an namibischen Schulen der gesamte Unterricht in der Weltsprache statt. Ob es normal ist oder mit den fremden Besuchern zusammenhängt, dass sich die Kinder so still verhalten? In der 10. Klasse, der höchsten der Gesamtschule, herrscht noch größere Ernsthaftigkeit. An der Wand kleben Zettel mit Sprüchen: „There is more wisdom in listening than in speaking.“ Die Schülerinnen und Schüler singen die Schul- und Nationalhymne für die Gäste, um sich gleich wieder in ihre Aufgaben zu vertiefen. Manche haben das feste Ziel, noch eine höhere Schule und dann die Universität zu besuchen.



Fotos: pa
SCHULBESUCH BEI WAISENKINDERN
Der Kieler Studienreiseveranstalter Dr. Tigges hat den Besuch der Uvhungu-Vhungu-Schule in die Rundreise „Namibia, Botswana, Simbabwe“ integriert. Allgemeine Informationen zu Namibia gibt es beim Fremdenverkehrsamt unter http://www.namibia-tourism.com.
Eindrucksvolle Reportage! Mealie Pap klingt ja grauenhaft!! Solch ein Meisterwerk sollte eigentlich bezahlt werden, ich finde 3 Euro für das Lesen einer solch professionellen Reportage mit genialen Fotos sollten schon drin sein. Warum sollte diese Leistung nicht honoriert werden? Viele Grüsse Der Gute Reisende
Hallo Gutreisender, das ist ein netter Vorschlag. Nur müssten erst einmal die Leitmedien diesen Schritt geschlossen gehen, bevor sich daran denken ließe. LG, die reisekorrespondentin
„Gefällt mir“, dass es auf deiner Seite nicht nur die weit verbreitete Friede-Freude-Traumstrände-Sülze gibt. Interessante Reportage und eindrucksvolle Motive.
Freut mich, dass die Vielfalt „gefällt“.
Tolle Reportage, sowohl informativ und unmittelbar, als auch poetisch.
Dieser wichtige Bericht sollte nicht auf einem spärlich besuchten Blog „versauern“!!! Wenn eine Frau am Anfang der 2. Lebenshälfte steht, fragt sie sich doch „was fange ich mit dem Rest meines Lebens an?“ Wie wäre es, dich sozialpolitisch schreibend zu egagieren und so dem Lieben Gott (oder wem auch immer) ein Stück von dem zurückzugeben, was er dir an außergewöhnlichem Schreibtalent in die Wiege gelegt hat? Und warum gibt es von der Reisekorrespondentin keine Bücher? Ich würde sie sofort kaufen! Beste Grüße… Horst Lechner
Besten Dank für die Empfehlung, auch wenn sie nach altertümlichem Frauenverstehertum klingt.;-)
Sie sollten mehr Werbung für die klasse Artikel machen, zB in den sozialen Netzwerken.
Es besteht kein Anlass, aber danke für den Tipp.
Jahre lang wird Afrika angeblich geholfen. Jeder Mensch hilft, jedes Land hilft. Aber Afrika geht es immer noch schlecht. Da wundert es mich das man Griechenland retten in wenigen Monaten geholfen werden konnte oder musste. Trotzdem schön die funkelnden Augen der Kinder zu sehen.
Lg Mati
Was ist mit Kinder Armut in Deutschland…?
Dieser Blog ist auf Reise-/Tourismusberichte weltweit ausgerichtet. Soziale, politische, gesamtwirtschaftliche, kulturhistorische, ökologische und sonstige Aspekte werden daher nur – mal mehr, mal weniger – am Rande berührt. Das Schlaglicht auf Namibia soll keinesfalls Kinderarmut in Deutschland in den Schatten stellen.