Massentourismus und Religion sind eine eher unselige Verbindung. Wie geht das südfranzösische Städtchen Lourdes damit um, dass jedes Jahr Millionen von Wallfahrern jenen Felsen sehen und berühren wollen, an dem die heilige Bernadette ihre Marienerscheinungen hatte? Eine Besichtigung des Pilgertourismusbestsellers.
Für einen Augenblick glauben wir, in dem Brustkorb eines Riesen gelandet zu sein. Vor uns liegt ein gigantischer Raum, über den sich Deckenträger aus nacktem Beton spannen, die wie die Rippen und das Rückgrat eines titanischen Wesens aussehen. Wir stehen in der Basilika Saint-Pie X, die sich fast 200 Meter lang und 90 Meter breit unter dem Gelände des Heiligtums Notre Dame de Lourdes erstreckt. In Spitzenzeiten versammeln sich in dem unterirdischen Gotteshaus bis zu 25.000 Besucher, doch heute sind die Hunderte von Holzbänken unbesetzt. Es ist kurz vor Ostern. Die Ruhe vor dem Sturm in dem südfranzösischen Wallfahrtsort.

Jedes Jahr reisen rund sechs Millionen Touristen aus 140 Nationen nach Lourdes, das eigentlich nur ein durchschnittlich charmantes und unterdurchschnittlich interessantes 15.000-Einwohner-Städtchen in der Region Midi-Pyrenäen ist. Mit 12.000 Betten in 250 Hotels verfügt der Ort über eine Übernachtungskapazität, die frankreichweit nur von wenigen Städten überboten wird. Nicht minder imposant ist die Zahl der Souvenir-Läden in den Gassen um das Heiligtum: Es sind mehr als 200. Damit die Händler zu gleichen Teilen von den Besucherströmen profitieren, wird alle zwei Wochen die Verkehrsführung umgestellt.

Wir wollen wissen, was all die Menschen hierher treibt und treten aus dem zugigen Basilika-Brustkorb wieder ans Licht. Auf dem 52 Hektar großen Wallfahrtsareal, zu dem 22 Kirchen und Kapellen gehören, sind außer uns nur wenige Leute unterwegs. An den Zapfstellen des Wunderwassers hat eine spanische Familie mit Kindern und Greisen ihre Kanister gezückt. Nonnen schweben vorbei in Richtung Bäder, wo sie den Kranken dabei assistieren, in das begehrte Nass zu steigen – mehr als 350.000 Wallfahrer sind es jährlich. Vor der Grotte Massabielle, dem Herz des Heiligtumsorganismus, hat sich ein kleiner Stau gebildet: Jeder will den Fels berühren, an dem Bernadette 1858 ihre Marienerscheinungen hatte, und die Quelle sehen, die das Mädchen auf Anweisung der Heiligen Jungfrau freigelegt haben soll. Demutsvoll schauen italienische Jugendliche zu der weiß-blauen Marienstatue auf, die mit gefalteten Händen in einer kleinen Höhle über der Grotte steht.

Doch die meiste Zeit des Jahres geht es hier wuseliger zu. Dann sorgen Aufpasser dafür, dass niemand zu lange an der Grotte verweilt. Vor den Bädern stehen Sperren, um die Menschenmassen zu Warteschlangen zu formen. Aus Lautsprechern erschallt das Gottesdienstprogramm – bis zu 22 Messen in vielen verschiedenen Sprachen sind es täglich in den Sommermonaten. Und überall gibt es Schlitze für Spenden. An einem Automaten, aus dem man sich für einen Euro ein Fläschchen nehmen darf, steht in sechssprachiger Ausführung eine Aussage der Heiligen Bernadette: „Dieses Wasser hat ohne Glauben keine Wirkung.“ Rund 30 Millionen Euro fließen jedes Jahr in Renovierungen und neue Zierden – vor allem in das Haupt des Heiligtums, das neugotisch-neobyzantinische Basilika-Doppel, auf dessen bleigrauer Kuppel ein goldenes Krönchen glänzt.

Auch vor den Toren des Wallfahrtsbezirks ist Lourdes noch damit beschäftigt, sich den Nebensaisonschlaf aus den Augen zu reiben. Hinter der Brücke über den Gave de Pau biegen wir auf den blau markierten Pfad Richtung Zentrum ein, der das von Armut und Andacht geprägte Leben der Bernadette nachzeichnet. Unter den sechs Stationen ist auch die Mühle Boly, in der das Mädchen 1844 zur Welt kam. Über einem Bild, auf dem Bernadette sehr ernsthaft aussieht, steht ihr Credo: „Man muss grenzenlos lieben.“ In den ersten zehn Jahren soll sie viel Glück und Geborgenheit erfahren haben, doch dann begann der soziale Abstieg der Familie Soubirous – verursacht durch die Konkurrenz modernerer Mühlen, eine Dürreperiode und die eigene Großzügigkeit den Armen gegenüber. Am Ende mussten die Müllersleute im ehemaligen Gefängnis der Stadt unterschlüpfen. Von dort machte sich die damals 14-jährige Bernadette zur Grotte am Fluss auf, wo ihr die Heilige Jungfrau 18-mal begegnete.

Touristen können in den Gassen von Lourdes heute Marienerscheinungen en masse erleben. Die Souvenir-Läden sind voll mit Figuren aus Stein, Gips, Plastik und phosphoreszierenden Materialien. Außerdem zählen Rosenkränze, Kreuze und Kerzen zum Repertoire – kurzum alles, was das Pilgerherz begehrt. Dass die meisten Devotionalien aus Billiglohnländern stammen, scheint eine akzeptierte Begleiterscheinung der unseligen Verbindung von Religion und Massentourismus zu sein.



Fotos: pa
Oben auf der mittelalterlichen Trutzburg, die heute ein Pyrenäen-Museum beherbergt, wird die Ahnung zur Gewissheit: Ohne Bernadette wäre Lourdes ein unbekannter Flecken. Das Städtchen besitzt weder Attraktionen noch auffälligen Liebreiz. Die Anziehungskraft beruht auf Unsichtbarem. Um Lourdes herum locken allerdings gleich mehrere Höhepunkte: der Pic du Midi mit einer Sternwarte auf dem 2.877 Meter hohen Gipfel, der Cirque de Gavarnie, ein gigantischer Felsenkessel mit dem höchsten Wasserfall Frankreichs, der Pyrenäen-Nationalpark und Wellness-Zentren mit heißem Thermalwasser.
DER WEG ZUM WUNDERWASSER
Informationen zu Lourdes gibt es beim Tourismusbüro unter www.lourdes-infotourisme.com.