Aus Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“-Novelle ist bekannt, dass ein armes Schneiderlein für einen betuchten Grafen gehalten werden kann, wenn er sich in feinen Zwirn hüllt. Wer in schlichten Baumwollklamotten auf eine Mountainbiketour geht, während alle anderen Teilnehmer windschnittige Funktionskleidung tragen, bekommt es ebenso mit Fehleinschätzungen zu tun. Ein Ausflug ins bergige Hinterland von Teneriffa.
Ist es nur leichte Verärgerung oder schon pure Fassungslosigkeit, die aus dem Blick von Markus spricht, als er meine Füße mustert? Sie stecken in meinen Lieblingssandalen, die schon viele Sommer und Länder gesehen haben. „Mit diesen Schuhen“, sagt der Mountainbike-Guide von Diga Sports und schüttelt entschieden den Kopf, „steigst du mir nicht aufs Rad.“ Ich checke die anderen Pedalritter, die sich für unsere Fahrradtour vor dem Hotel aufgestellt haben. Sie scheinen es ernst zu meinen, fast alle tragen Hightech-Rüstungen – Funktions-Shirts in knalligen Farben, schneidige Sonnenbrillen, leichte Rucksäcke und Sportschuhe.
Markus gibt mir fünf Minuten, damit ich in meinem Zimmer noch einen Schuhwechsel durchführen kann. Ich habe nur Sneakers im Angebot, die schon viele Jahreszeiten und Länder gesehen haben, doch sie finden vor den Augen des Mountainbike-Profis Gnade. Offenbar haben Markus und sein Team keine lasche Schnupperfahrt mit uns vor. Es soll ins Hinterland von Teneriffa gehen, irgendwo in die Berge im Süden der kanarischen Insel bei Playa de las Americas.
Mit Kleinbussen und Anhängern, auf denen nagelneu aussehende Mountainbikes stehen, fahren wir die Serpentinen bis zum Startpunkt bei Vilaflor hinauf. Die Gemeinde befindet sich 1.500 Meter über dem Meer und ist die höchste Teneriffas. Nachdem alle mit Fahrrädern, Helmen, Wasserflaschen und einer guten Portion Sonnencreme versorgt sind, erteilen die Diga-Sportsmänner noch einige Instruktionen: Wir sollen immer schön auf den Untergrund achten, die Gänge nicht im Stand wechseln und niemals nur eine Bremse betätigen, andernfalls wir im hohen Bogen über den Lenker segeln könnten, was wegen des scharfkantigen Terrains eher nicht erstrebenswert sei. Und das Trinken nicht vergessen. Dehydration führe im Handumdrehen zu Leistungseinbruch mit Gummibeinen.

Die Sonne scheint stramm vom Himmel, als sich unsere Kolonne in Bewegung setzt. Kein Wölkchen trübt das Blau. Schon nach wenigen Metern merke ich, dass mein Mountainbike etwas zu klein für mich ist. Es erscheint mir sehr wahrscheinlich, dass ich in der unkomfortablen Sitzposition ungefähr so elegant wie ein Affe auf dem Schleifstein aussehe, jedenfalls fühle ich mich so. Doch für einen Fahrradtausch ist es nun zu spät.
Kurz darauf biegen wir von der steilen Asphaltstraße in einen nicht minder steilen, dafür aber deutlich hubbeligeren Forstweg des Naturparks Corona Forestal ein. Die Fahrer vor mir wirbeln Staub auf, Steinchen spritzen. Mir dämmert, dass Markus und die anderen ihre Sonnenbrillen wohl nicht als Accessoire für die Coolness tragen, sondern zum Schutz. Meine Sonnenbrille ist im Hotelzimmer geblieben. Also versuche ich, die Augen nur so weit offen lassen, dass ich die Schotterpiste gerade noch erahnen kann.
Je weiter wir uns in die Berge arbeiten, desto schmaler, kurviger und holpriger wird der Pfad. Rechts und links fallen die Hänge scheinbar ins Nichts. Jedes Mal, wenn ich bremsen muss, besteht Rutschgefahr. Weil die anderen auch nicht ganz sicher im Sattel sitzen und manchmal ohne Ansage überholen, muss ich ziemlich oft bremsen. Das Anfahren im allerkleinsten Gang ist ebenfalls immer wieder ein kleiner artistischer Akt. Wenn einer von uns umfällt, fallen wir alle um wie die Dominosteine, denke ich und halte daher etwas Abstand zum Pulk.
Die Kiefernwälder liegen hinter uns, nur noch genügsame Pflanzen wie Feigenkakteen und Drachenbäume säumen jetzt den Weg. Doch anstatt die Aussicht zu genießen, hefte ich den Blick lieber auf den Untergrund und die anderen Radfahrer. Einige Kilometer weiter hat sich das Massensturzrisiko deutlich minimiert. Die Gruppe ist nun weit verstreut, unser Konditionsgefälle entpuppt sich als ebenso extrem wie die Steigung. Ich habe mich mittlerweile mit der Affe-auf-dem-Schleifstein-Situation synchronisiert und mein Tempo gefunden. Gleichmäßig strample ich vor mich hin und lasse den Gedanken freien Lauf, bis mir irgendwann auffällt, dass niemand mehr hinter mir ist.
Ob es einen Sturz gegeben hat, frage ich mich, oder ob es daran liegt, dass ich jeden Tag 28 Kilometer mit dem Rad zur Arbeit fahre und deshalb eine einigermaßen solide Basis habe? Oder sollte ich falsch abgebogen sein, aber da war doch nirgends eine Abzweigung, oder doch? Ich entschließe mich zu einer Rast und genieße die Stille, die Menschenleere, die frische Luft und den Blick über die braunen Berge, die sich gegen den Horizont wie eine Herde kahl rasierter Mammutrücken abzeichnen. Am Himmel sind inzwischen brautschleierzarte Wolken aufgezogen.
Dann tauchen an der Kurve die ersten aus der Gruppe auf. Als sich auch die Nachhut mit Dampflokomotivschnaufen und Köpfen wie Kirschtomaten herangekämpft hat, kommt von Markus die erlösende Ansage: „Gleich habt ihr’s geschafft, dann geht’s nur noch abwärts.“

Fotos: pa
Und das ist tatsächlich die volle und fantastische Wahrheit. Nach dem letzten Buckel brausen wir in einer grandiosen Schussfahrt mit Atlantik-Blick hinunter nach Playa de las Americas, dass der Wind in den Ohren dröhnt und wie eine unsichtbare Hand auf die Augen drückt. Auf der Straße ist nicht viel los, so dass wir unseren Drahteseln freie Zügel lassen können. Damit wir danach nicht erst auf die Idee kommen, uns auf unsere sportliche Leistung etwas einzubilden, teilt uns Markus noch mit, dass unsere Tour gerade mal als mittelschwer gilt – Schwierigkeitsgrad 2 auf der Diga-Sports-Skala von 1 bis 3.
Noch etwas später erfahre ich, dass mich meine Mitradler als Tiefstaplerin identifiziert haben wollen, bloß weil ich anders als die anderen im Baumwoll-Top angetreten bin und mein Fitness-Profil nicht gleich in die Runde hinausposaunt habe. Zumindest deutet darauf ein Zeitungsartikel hin, den ein Teilnehmer der Tour hier publiziert hat. Auch lerne ich aus dem Bericht, dass ich eine Ökotante mit Waldorfschulprägung bin, die gerne lieber heute als morgen in einem bioklimatischen Dorf auf Teneriffa einziehen würde und abends nur Apfelsaftschorle trinkt, damit sie anderntags wieder die erste auf dem Mountainbike ist.
Allerdings habe ich besagtes Ökodorf nie betreten, sondern an jenem Tag einen Ausflug auf den Spuren von Alexander von Humboldt in einen ganz anderen Teil der Insel unternommen. Zu meiner Ehrenrettung sei außerdem gesagt, dass ich später beim Abendessen auf einer Bananenplantage sehr wohl dem Alkohol in Form von Rotwein und Licor de Plátano (Bananenlikör) zugesprochen habe. Denn eine Waldorfschulvergangenheit führt genauso wenig zu lebenslangem Ökokonservatismus mit Frischkornbrei-Askese wie Hightech-Hemden zur Verwandlung von Büromenschen in Sportskanonen. So schlicht ist die Moral von der Geschicht.
* Teneriffa-Kennern wird aufgefallen sein, dass die Fotos nicht den Süden der Insel zeigen, sondern den Norden. Das liegt daran, dass ich auf der Fahrradtour die Kamera im Hotel zurückgelassen hatte. Doch sehr unterscheiden sich die Ausblicke auf die Berge und das Meer nicht.
STRAMPELN, WANDERN UND PADDELN AUF TENERIFFA
Diga Sports organisiert sowohl Mountainbiking-Ausflüge als auch Rennrad-, Wander- und Kanutouren verschiedener Schwierigkeitsgrade (www.diga-sports.de). Informationen zu Teneriffa bietet das Fremdenverkehrsamt unter www.webtenerife.de.
Da wurde wohl passend geschrieben, was nicht ganz passend war … ;-) Find ich toll, dass du Sportskanone und Büromensch in einer Person bist, ist doch so?
Da müsste man die „Sportskanone“ noch etwas genauer definieren, eigentlich läuft die Radelei zur Arbeit bei mir unter Fortbewegungsmittel. Mein Drahtpferdchen ist einfach zuverlässiger als der Öffentliche Personennahverkehr – und die frische Luft gibt’s noch gratis dazu.
Hat mir beim lesen viel Vergnügen gemacht. Ich habe etwas mitgelitten. Herzliche Grüße, Lewi
Das freut mich zu lesen, liebe Hildegard Lewi, dann hat die Erzählung ihre Wirkung ja nicht verfehlt. ;-) Viele Grüße (zurzeit aus der malaysischen Dampfbadklima-Metropole Kuala Lumpur)!