Die Khwe leben seit Menschengedenken vom Jagen. Doch weil die Regierung ihre Heimat im Nordosten Namibias zum Schutzgebiet erklärt hat, ist das Erbeuten von Großwild nur noch zahlungskräftigen Touristen gestattet. Jetzt soll eine „Buschmann-Akademie“ dem San-Volk neue Perspektiven als Fährtenleser und Ranger eröffnen.
Tatzenabdrücke von der Königin der afrikanischen Tiere! Alfred Tchadau zeichnet mit seinem Stock einen Kreis um den Fund und kommentiert ihn mit den Klick- und Schnalzlauten der Khwe-Sprache. Sein Kollege Peter Masiliso übersetzt ins Englische: Wir hätten Glück, Fährten von Löwen bekäme man nicht alle Tage zu Gesicht. In der vergangenen Nacht sei das weibliche Raubtier hier gewesen, auf dem Weg zu einer Wasserstelle vermutlich und nicht auf der Jagd nach einem Mondscheinmahl. Die Zeichen im Sand zeugten von gemächlichen Bewegungen.
Ja gewiss, wir freuen uns über diesen Höhepunkt unserer Spurensuche im Bwabwata-Nationalpark, aber mehr noch über den Umstand, der Löwin nicht Auge in Auge begegnet zu sein, so zu Fuß unterwegs in Begleitung von unbewaffneten Fährtenlesern. Wir stehen mitten auf einer Lichtung, die von den Strahlen der Morgensonne geflutet ist, und studieren frisches Spurengewimmel: Antilopen- und Büffelhufe, Löwen- und Leopardentatzen, Ameisenlöwenfangtrichter, Stachelschweinpfoten, Straußenkrallen und baumstammdicke Elefantenstapfen. Wüssten wir nicht, dass sich die Khwe in dem Landstrich im Nordosten Namibias bestens auskennen, weil er seit Ewigkeiten ihre Heimat ist – wir würden uns auf dem Highway der wilden Tiere wohl vorkommen wie Frühstückshäppchen auf dem Silbertablett.
Als ein Volk der Ureinwohner San sind die Khwe wahre Meister im Fährtenlesen. Noch immer könnten sie die knochenharte Ausdauerjagd in der Tradition ihrer Vorfahren betreiben, bei der sie ein Tier aus der Herde auswählen, es von den anderen Tieren separieren und ihm so lange auf den Fersen bleiben, bis es mit seinen Kräften am Ende ist, um es dann mit dem Speer zu erlegen. Viele Stunden, manchmal Tage zöge sich die Verfolgung dahin – durch dorniges Dickicht und über ausgemergelte Ebenen in der Gluthitze des südlichen Afrikas. Eine sportliche Spitzenleistung, die manchmal Ultramarathondistanzen jenseits der 40 Kilometer erreicht, nur dass sich die Läufer nicht an Verpflegungsstationen mit isotonischen Getränken und Energieriegeln stärken würden, sondern lediglich mit den Ressourcen der regenarmen Wildnis.
Doch weil das alles nur noch ein Konjunktiv ist, seit die Khwe nicht mehr jagen dürfen, stehen wir hier auf dieser Lichtung. Es geht um eine unselige Geschichte von Besatzern und Besetzten. Um eine Vision von einem Naturpark, der Menschen, Tiere und die Pflanzenwelt in den himmlischen Zustand der Harmonie versetzt. Um eine Gegenwart mit einem Hilfsprojekt, das noch in den Kinderschuhen steckt: eine „Buschmann-Akademie“, die den Einheimischen neue Verdienstmöglichkeiten als ökologische Beobachter, Ranger und Fährtenleser im Tourismus bieten soll.



Die Geschichte
Der Bwabwata-Nationalpark liegt im Caprivi-Zipfel, der sich wie ein Elefantenrüssel 450 Kilometer aus dem namibischen Staatsgebiet in die Nachbarländer Angola, Botswana und Sambia erstreckt. Die Grenzen stammen aus der Zeit der deutschen Kolonialherren, die sich im Landtausch mit den Briten einen Zugang zum Sambesi sichern wollten, der eine Verbindung zwischen Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika schaffen sollte – nicht wissend, dass sich der Fluss an den Victoria-Fällen in ein unschiffbares, tobendes Ungeheuer verwandelt. Auf die Kolonialzeit folgte das 70 Jahre währende südafrikanische Protektorat. Die Besatzertruppen errichteten Militärbasen und rekrutierten die Naturvölker im Kampf gegen die namibischen Freiheitskämpfer als Spurenleser. Deshalb und weil sie die kleinste ethnische Minderheit sind, stehen die San ganz unten in der sozialen Hierarchie des Landes.
Mit der Unabhängigkeit Namibias 1990 wurde der Naturschutz in der Verfassung festgeschrieben und das Volk aus seinen Lebensräumen vertrieben. Jetzt dürfen sich dort, wo die San an den Gräbern ihrer Ahnen Zwiesprache mit den Toten hielten, nur noch Safaritiere, Touristen auf Pirschfahrt und zahlungskräftige Trophäenjäger vergnügen. Seit der Eröffnung des weltgrößten länderübergreifenden Naturschutzgebiets Kavango-Zambezi (KAZA) vor drei Jahren können auch Elefantenherden aus den übervölkerten Naturparks von Botswana nach Namibia migrieren. In dem 200 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Bwabwata-Nationalpark halten sich zu manchen Jahreszeiten bis zu 8.000 graue Riesen auf. Wie bewegliche Gebirge bummeln sie durch die Schilfstaffagen am Ufer des Okavangos.
Als Folge von Schutzprogrammen sind in den namibischen Reservaten auch viele andere Wildtierzahlen gestiegen, nur die Nashornwilderei ist ein Problem. Mehr als 60 Tiere wurden in diesem Jahr im Etosha-Nationalpark getötet, weil Rhinozeroshorn in Asien immer noch als Wundermittel zur Steigerung der Manneskraft und Heilung von Krankheiten wie Krebs gilt, obschon die wissenschaftlichen Beweise fehlen. Ähnlich wie menschliche Haare und Nägel besteht das Horn überwiegend aus Keratin. Man könnte also ebenso gut Fingernägel kauen und viel Geld sparen, kostet das Pulver auf dem Schwarzmarkt doch mehr als Heroin.
Den Khwe ist die Aussiedelung erspart geblieben. Etwa 6.000 von ihnen leben im Bwabwata-Gebiet. Doch seit die Regierung den Streifen zum Nationalpark erklärt hat, beschränkt sich ihr Jagdrecht auf kleine Tiere wie den Springhare, der wie eine Känguru-Miniaturausgabe und nicht gerade schmackhaft aussieht. Großwild wird nur noch für Trophäenjäger zum Abschuss freigegeben – zu Preisen von 1.000 US-Dollar für Antilopen und bis zu 50.000 US-Dollar für Elefanten. Die Einnahmen aus den Jagdkonzessionen müssen sich die Khwe zur Hälfte mit dem Staat teilen. Vor einigen Jahren haben sie einen Verein gegründet, die Kyaramacan Association, um sich ein Mitspracherecht im Park-Management zu verschaffen.

Die Vision
Der Bwabwata-Nationalpark soll keine menschenleere Traumkulisse für Gin-Tonic-Safaris werden, kein geleckter Bilderbuchpark für Sundowncruises reicher Touristen, keine Steilvorlage für Romantikschwelgerei, kein Erfüllungsgehilfe für Sehnsüchte nach einer heilen Welt. Friedrich Alpers, der für die Nichtregierungsorganisation Integrated Rural Development and Nature Conservation (IRDNC) arbeitet und das Projekt mit dem Arbeitstitel „Buschmann-Akademie“ leitet, schwebt etwas anderes vor: ein Naturpark, in dem Menschen und Tiere in Einklang leben, wo Geben und Nehmen einen kerngesunden Kreislauf bilden und jahrtausendealte Traditionen neue Wertschätzung erfahren. Er nennt es „Naturschutz mit sozialem Faktor“. Einer, der das kulturelle Erbe hütet und neue Einkommensquellen für die Gemeinden sichert.
Vielerorts seien die Naturvölker ihres Landes, ihrer Identität und ihres Stolzes beraubt worden, erzählt der Namibier mit deutschen Vorfahren. „Wir verfolgen einen anderen Ansatz: Nicht der Staat und nicht die Betreiber von Safari-Lodges sollen profitieren, sondern die Menschen, die mit den wilden Tieren leben.“ Kapital der Khwe sei ihr uraltes Naturwissen: „Sie kennen alles in ihrer Welt – jedes Tier, jeden Busch, jede Spur im Sand.“ Alpers bezeichnet sie deshalb auch als „Professoren der Wildnis“. Nur könnten sie eben keinen Universitätsabschluss vorweisen. An der Buschmann-Akademie sollen die Stammesältesten ihre Fähigkeiten nun an die Jungen weitergeben, um ihnen als Fährtenexperten im Fremdenverkehr und in der Forschung neue Perspektiven zu eröffnen. Die Zertifizierung erfolgt mit dem mehrstufigen Trainingsprogramm „Tekoa“ (Traditional Environmental Knowledge and Outreach Academy). Ferner sind Kurse für Safaritouristen, Trophäenjäger, Geschäftsleute und Ranger geplant.
Bislang hat die Akademie allerdings nicht einmal ein Dach über dem Kopf. „Wir stehen erst am Anfang eines langen Weges“, sagt Alpers. Es gelte noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten – „mit Zahlen und Fakten, professionell und ohne Emotionen“, erklärt der 47-Jährige mit einem Leuchten in den Augen, das man nur als Leidenschaft für seine Vision deuten kann. Bis 2018 benötigt das Projekt, an dem neben dem IRDNC weitere Förderer wie der WWF, die Nachhaltigkeitsinitiative Futouris und der Reiseveranstalter Gebeco beteiligt sind, jährlich 120.000 Euro. Danach soll es sich selbst tragen und von den Khwe ohne fremde Hilfe fortgeführt werden.
Noch müssen die Gäste aus den Lodges vom anderen Ufer des Okavangos zu den Khwe herüberschippern, doch vielleicht schon Ende des Jahres wird das südafrikanisch-namibische Unternehmen Travelling Tortoise im Bwabwata-Nationalpark die erste Unterkunft eröffnen – eine Lodge mit 40 Betten auf dem Gelände eines ehemaligen Jagd-Camps. Zwei weitere Baugenehmigungen wurden vergeben, eine davon für eine Ideal-Lodge im Sinne der Nachhaltigkeit unter der Federführung von Futouris und KAZA.

Die Gegenwart
Da stehen wir nun also auf der Lichtung mit der mobilen Buschmann-Akademie. Alfred Tchadau und Benson Kupinga übernehmen die Führung. Die beiden Mittfünfziger sind sie die ältesten im Bunde – und die einzigen, die das Tekoa-Programm schon abgeschlossen haben. Doch nur zaghaft eröffnen sie uns Einblicke in ihre Welt und bestätigen uns das Bild vom scheuen San-Volk. Dabei haben sie leichtes Spiel mit uns mitteleuropäischen Stadtmenschen, deren ungeübte Augen bisweilen kaum die Tiere selbst in den Savannenlandschaften entdecken, geschweige denn ihre Fährten enträtseln können.
Auf unserer fast 1.000 Kilometer langen Fahrt von der Hauptstadt Windhoek bis zum Bwabwata-Nationalpark hatten wir immer wieder die Kunstfertigkeit von Mutter Natur bewundern dürfen, die ihre Schützlinge in Camouflage-Outfits von ausgewählter Finesse hüllt. Oft hatten wir die Tiere erst dann ausgemacht, wenn sie sich in der graubraunen Wildnis zu bewegen begannen: die Kudus mit ihren Korkenzieherhörnern so knorrig wie die Kameldornakazien und zarten Streifen so weiß wie die bleichen Grasteppiche der scheinbar endlosen Weiten. Die Oryx-Antilopen mit ihrem blassbraunen Fell zu schwarzweißen Masken und Strümpfen. Die Impalas, die wie Ballerinas durch den Busch tänzeln, beigefarben mit Kupferstich wie der knochentrockene Boden.
Über linealgerade Asphaltbänder waren wir gefahren, über sandige D-Roads geholpert, auf denen uns nur selten Staubwolken mit Fahrzeugen darin entgegenkamen. Wir waren in immergleiche Horizonte getuckert, die kein Ende nahmen, mit dürren Akazien, fahlgrünem Gestrüpp, haltungsgeschädigten Makalani-Palmen und millionenjahrealten Tafelbergen, durch Farmen so groß wie kleine Bundesländer. Manchmal musste jemand aus dem Bus springen, um ein Gatter zu öffnen, einmal setzten sich die Reifen fest. Dann und wann waren Bärenpaviane über die Piste gefedert, Rinder im Zickzack vor uns hergezockelt, Zebras über die Fahrbahn promeniert und Warzenschweinfamilien durchs Unterholz gepest, die Schwänzchen wie Antennen aufgerichtet.
Wir hatten ein Meisterwerk der Monotonie gesehen in dem Land, das zu den am dünnsten besiedelten der Erde zählt. Eine archaische Landschaft wie von der brennenden Sonne versteinert, irgendwann in der Vorzeit erstarrt, übersät mit spitzen Termitenhügeln, die von Ferne wie Tropfsteine wirken, als würde der Himmel rostrote Tränen vergießen, immer und immer wieder auf die gleichen Stellen. Gründe zum Weinen gäbe es viele – die Geschichte, die Armut, die Aidswaisen, die Arbeitslosigkeit. Doch aus dem Himmel von Namibia fällt nichts außer Regen, und das auch nur an ganz wenigen Tagen im Jahr. Jedes Wölkchen im tiefsten Blue-Screen-Blau ist eine kleine Sensation.




Die Khwe kennen alle Überlebensstrategien in dieser menschenfeindlichen Welt. Sie wissen, aus welchen Baumhöhlen sie mit einem Grashalm Wasser saugen können. Sie sehen, wenn weiter oben an den Bäumen Schlamm klebt, den die Elefanten beim Rückenschuppern hinterlassen haben. „Das nächste Wasserloch kann also nicht weit sein“, übersetzt Peter die Erklärungen von Alfred. Das Sammeln von Früchten und Kräutern ist Fachgebiet der Frauen. Thiku und Mary zeigen uns einige Mittelchen aus dem mannigfaltigen Sortiment der Naturdrogerie: den Giftapfel, dessen geriebene Wurzel sich zur Abwehr von Malaria-Moskitos eignet, das Spatzengras, das sie als Waschmittel verwenden, außerdem Kräuter gegen Hunger, Erkältungen, Entzündungen, Magenverstimmungen und Menstruationsbeschwerden, die sie aber nur in ihrer Sprache benennen können.



Damit sich auch die junge Generation nicht nur für Smartphones und eine Zukunft fern ihrer Dörfer interessiert, hat Alpers ein Busch-Camp angeregt, bei dem sich die alten Jäger mit den Jungen für ein paar Tage in die Wildnis zurückziehen. Es sei spannend, was dann passiert, schildert der Projektleiter. Die Coolness der Jungen geriete früher oder später ins Wanken, wenn sie sehen würden, was die Alten alles können. „Und dann erwacht ihre Neugier.“ Bevor Alpers vor neun Jahren zu den Khwe kam, war er Winzer in Südafrika, studierte Landwirtschaft in Oxford und betreute ein Nashornschutzprojekt. Sein Haus steht in einer Bucht bei dem Dörfchen Buffalo – eine Bleibe ohne Zäune und ohne Fensterscheiben bis auf das Büro.
Hierher kommen wir am Abend, um mit den Khwe am Lagerfeuer zu sitzen. Die Sonne badet das Ufer in goldenen Strahlen. Aus dem Okavango glubschen Flusspferde, ein Elefant strolcht durchs Gebüsch, Kudus wagen sich zu einer Wasserstelle bis auf wenige Meter an uns heran. Ganz langsam, als die Dunkelheit hereinbricht und wir dichter ums Feuer zusammenrücken, werden die Khwe gesprächiger. Sie berichten von ihren komplexen Heiratsritualen, bei denen erst die Großmütter die Strippen ziehen, dann die Mütter informiert werden, schließlich die Väter und als allerletztes die Auserwählten selbst. Zum schnelleren Kennenlernen sperrt man sie für einige Tage in eine Hütte ein.
Die Khwe erzählen auch von ihren Träumen, in denen einfach alles wieder so wie früher wäre, obschon dieses Leben kein Zuckerschlecken war. Und sie offenbaren uns ihre Nöte. Alfred wohnt in einem Dorf 110 Kilometer von hier entfernt mit neun Kindern von zwei Frauen. Er sagt, dass er seine Hütte dringend reparieren müsse, ihm aber das Geld dafür fehle. Würde es ihrem Naturell entsprechen, könnten sich die Khwe auch mit Heldentaten brüsten. So aber erfahren wir die Geschichte von Alpers: Vor einigen Jahren sei in sein Haus eingebrochen worden. Die Khwe konnten den Dieb aufspüren – zwölf Kilometer entfernt in einem anderen Dorf.
Am Himmel funkelt das weiße Sternenband der Milchstraße. Irgendwo aus der Finsternis dröhnt das abgrundtiefe Grunzen der Flusspferde herüber. Es ist jedes Mal wieder ein Gänsehautmoment, weil es so nah klingt. Wenn es Nacht wird, stampfen die tonnenschweren Kolosse zum Grasen an Land, und dann sollte man ihnen besser nicht in die Quere kommen. Doch was kann uns in Gesellschaft der Wildnisprofessoren schon passieren.
BEI DEN FÄHRTENLESERN
Die Spurensuche mit den Khwe ist neu bei Gebeco im Programm. Der Kieler Reiseveranstalter hat das Projekt in die 20-tägige Länderkombination „Namibia, Botswana und Simbabwe“ seiner Studienreisemarke Dr. Tigges integriert. Mehrmals übernachten die Gäste in Unterkünften der Gondwana-Kollektion, die auf Naturschutz und soziales Engagement bedacht ist. Allgemeine Informationen zum Land bietet das Namibia Tourism Board.


Fotos: pa
Hi,
toller Bericht über ein spannendes Projekt. Die Bilder von „Das jungen Gesicht von Namibia“ sind auch echt ausdrucksstark … Nehme an, die sind bei der gleichen Reise entstanden? Btw: Bin jetzt auch Abonnent von der reisekorrespondentin. ;-)
Hey Maximilian! Das freut mich alles – und ja, benannte Fotos stammen von derselben Namibia-Reise.