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Irgendwann verwandelte sich Spießbaden in einen bunten Schmetterling


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Reiche Rentner, geleckte Gründerzeitpracht, Wüste der Kreativität: Ungefähr so wohlwollend dachte die reisekorrespondentin über Wiesbaden, als sie vor 13 Jahren einer neuen Arbeit und der Liebe wegen in die hessische Landeshauptstadt zog. Höchste Zeit für eine persönliche Revision.

Ich kann nicht genau sagen, wann es war. Nicht im ersten, zweiten oder dritten Jahr. Viel später irgendwann. Da hatte sich Wiesbaden in mein Herz geschlichen, langsam und auf leisen Sohlen. Aus dem „Spießbaden“, für das mich mein Freundeskreis damals bedauert hatte, als ich meinen Lebensmittelpunkt dorthin verlagerte, war ein Schmetterling geworden – bunt und bezaubernd, herausgeschlüpft aus dem Kokon der Klischees. Hatte sich die Stadt verändert oder mein Blick auf sie? Aber fange ich von vorne an.

Da war also dieses Wiesbaden-Bild gewesen, entstanden aus dem, was man so hörte und las: Bonzen-Biotop mit einer der höchsten Millionärsdichten Deutschlands und hoher Lebensqualität. „Pensionopolis“ mit piekfeinen Parks, Villenvierteln, Thermalbädern, Spielbank, alteingesessenen Weinlokalen und Cafés. „Nizza des Nordens“, was ich weniger mit mediterranem Klima und ebensolcher Lebensart als mit Zurschaustellung von Reichtümern und Eitelkeiten verband. Behördenstadt mit dem Statistischen Bundesamt und dem Bundeskriminalamt. Stützpunkt der US-Armee. Und schließlich: Tor zum Rheingau mit dem vom Massentourismus malträtierten Rüdesheim.

In meiner Kindheit hatte ich Wiesbaden auch schon einige Male besucht. Ich erinnere mich noch an einen Ausflug zum Internationalen Reitturnier im Schlosspark Biebrich und daran, dass meine Mutter auf irgendeiner Rückfahrt im Auto sagte, sie habe bei dem Wiesbadener Mc Donald’s den besten Hamburger aller Mc Donald’s gegessen. Im Rückblick erscheint mir das doppelt fragwürdig, weil wir eigentlich nur in nahrungstechnischen Notfällen bei der Fast-Food-Kette einkehrten und diese schon zu jener Zeit jedes schlaffe Salatblatt ohne Ehrfurcht vor der langen Genuss- und Gesundheitstradition der einstigen Weltkurstadt genormt auf den Pappbrötchen platziert haben dürfte.

Später als Studentin führte mich eine Einladung ins Hessische Staatstheater nach Wiesbaden. Ich war geblendet von all dem goldenen Neobarockprunk des Foyers mit den offenen Wandelgängen und der doppelläufigen Treppenanlage, überwölbt von einem rokokostuckumsäumten Deckengemälde voller Sinnbilder zur Beglückung der Menschheit durch die vom Himmel herabsteigende Kunst. Und dann das Ensemble drumherum: das Kurhaus mit dem Kasino, flankiert von den längsten Kolonnaden Europas, dazwischen das Bowling Green mit Wasserkaskaden in dreischaligen Brunnen, dahinter der Kurpark mit Magnolien, Rhododendren und Sumpfzypressen, davor die Kaufrauschofferten der Wilhelmstraße für Kunden mit prallgefüllten Konten – Uhren, Geschmeide, Kleidung, Schuhe und Wohnaccessoires namhafter Designer.

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Das Kurhaus mit den Kolonnaden und dem Bowling Green

Ich war bereit gewesen, mit meinen Vorstellungen aufzuräumen, samt und sonders. Wiesbaden irgendwie gegen die Kommilitonen zu verteidigen, die dem Berlin-Hype gefolgt waren. Die in Hamburg und München die Weichen für steile Karrieren stellten. Die sich so karnevalesk und königlich in Köln amüsierten. Die Leipzig als Geheimtipp entdeckten. Die sich fürs Landleben entschieden hatten und von der traumhaften Ruhe und Grillabenden im Garten schwärmten. Und fand zunächst kaum etwas, das sich dafür eignete.

Ich sah eine reservierte Schickimickistadt – schön, sehr schön anzusehen mit ihren tadellos frisierten Parks und der kriegsnarbenarmen Gründerzeitpracht, überragt von den Backsteinturmspitzen der neugotischen Marktkirche als höchstem Bauwerk in der wolkenkratzerfreien Altstadtsilhouette. Ich erlebte etablierte Stadtfeste, die ihre Etabliertheit feierten. Das Frühlingsfest auf dem Elsässer Platz mit Rummelradau im April. Oder das „Theatrium“ auf der Wilhelmstraße im Juni, eines der ältesten deutschen Straßenfeste, auf dem sich an Schaumweinständen eher ein Durst nach Dünkel als der nach Daseinsfreude stillen ließ. Oder die „Rheingauer Weinwoche“ im August, während der die Winzer ihre neuen Jahrgänge an betagte Jahrgänge ausschenkten, untermalt mit mutloser Mainstream-Musik von Coverbands.

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Weithin sichtbar: die Turmspitzen der neogotischen Marktkirche

In den Wintermonaten wärmte ich mich in den heißen Quellen, deretwegen schon die Römer in der Region zwischen Rheintal und den Hügeln des Taunus siedelten, dem damaligen Aquae Mattiacorum. Einige Jahrhunderte später errichten die Franken einen Königshof in „Wisabada“ und ab dem Spätmittelalter bauten die Fürsten von Nassau das ländliche Städtchen zu einem sinnenfrohen Badeort und ihrer Hauptresidenz im Schloss Biebrich unten am Fluss aus. Dazwischen sind noch mehrere verheerende Brände zu notieren, einer davon geschehen auf Anordnung des Mainzer Erzbischofs, als Wiesbaden vorübergehend Reichsstadt war.

Nach der Annexion des Herzogtums Nassau durch Preußen 1866 rückte alsbald Wilhelm II. zur Sommerfrische an, seinen Hofstaat und viele andere im Gefolge, die am Glanz der nun auch als Kaiserstadt gefeierten Kurstadt partizipieren wollten – Adelige, Industrielle und Kunstschaffende. Binnen weniger Jahrzehnte vervierfachte sich die Einwohnerzahl auf 100.000, begleitet von stürmischen Bauaktivitäten, deren Ergebnisse das Antlitz der Stadt noch heute bestimmen: palastartige historistische und klassizistische Villen und Bürgerhäuser, mit denen „Wiesbaden als Bühne der Gesellschaftskur des 19. Jahrhunderts“ seit 2012 um den Weltkulturerbe-Status der Unesco buhlt.

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Typisch Wiesbaden: breite Straßen mit Grünstreifen und Gründerzeitpracht. Hier die Rheinstraße …
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… und die Adolfsallee.
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Die heißen Quellen lockten schon die Römer in die Gegend des heutigen Wiesbadens.

Schön, sehr schön anzusehen. Nur konnte ich den Puls der Stadt nicht spüren, vermisste Sprünge in der Fassade, Schrilles, Schöpferisches, Spielerisches. Ich begegnete Leuten, deren Mienenspiel zwischen zugeknöpft und distanziert changierte – und als Nordlicht war ich einiges an Zurückhaltung gewohnt gewesen. Von den Mitmenschen mit eingebauter Vorfahrt schien es in Wiesbaden besonders viele zu geben, Mercedesfahrer, Mütter und Supermarkteinkäufer, die ihre Wagen wie Mähmaschinen einsetzten. Und Fahrradfahrer, wie ich es bin, waren in den Straßen mit den wenigen Radwegen offenbar nicht vorgesehen.

So durfte ich wählen, ob ich auf den Straßen zwischen Blechlawinen lavieren wollte oder auf den Bürgersteigen zwischen Kinderwagen, Rollatoren, Hunden und deren Herrchen. Das Hunde-Herrchen-Gespann barg die größten Tücken, weil es mit nahezu unsichtbaren Leinen verbunden sein konnte, die quer über den Gehweg verliefen, um sich dann irgendwo in einem der reich gesäten Grünstreifen zu verlieren, in denen die Vierbeiner ihren Geschäften nachgingen. Joggern, die früher viel Gummitwist gespielt und einen guten Reflex haben, mochte gegebenenfalls noch das Springen über die Strippen gelingen. Mit dem Fahrrad bedurfte es dafür fortgeschrittener akrobatischer Fähigkeiten.

Und so war ich im Laufe der Jahre in einige harmlose und weniger harmlose Kollisionen verwickelt. Und regelmäßig bekam ich von Autofahrern und Passanten zu hören: „Frollein, das ist kein Radweg!“ Wenig sachdienlich, denn wo kein Radweg ist, kann man keinen benutzen. Es war auch nur der schwache Trost der Bestätigung, als ich neulich las, dass andere Bürger mit der Lage ebenfalls nicht zufrieden sind. In einer Umfrage zum „Leben in Wiesbaden“ im Auftrag des Amts für Strategische Steuerung, Stadtplanung und Statistik wurden die Fahrradwege und die Radverkehrssicherheit am schlechtesten beurteilt. Und im „Fahrradklima-Test 2014“ des ADFC trägt Wiesbaden von den Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern die Rote Laterne.

Ja, liebes Wiesbaden, du hattest es schwer mit mir und ich nicht immer leicht mit dir. Bitte glaube mir, dass ich deine Luxusseiten nicht aus niederen sozialneidischen Motiven verschmähte, sondern weil mir das Streben nach überflüssigen Besitztümern und das Verwalten derselben seit jeher mit unverantwortbaren Belastungen des Lebenszeitkontos verbunden zu sein scheinen. Auch musst du wissen, dass du für mich beruflich bedingt oft nur eine Check-in-und-Check-out-Area zwischen einer Reise und der nächsten warst – Sachen raus aus dem Koffer, Sachen rein in den Koffer, dazwischen die alltäglichen Schreibtischarbeiten zuzüglich der liegengebliebenen. Darum dauerte es wohl so lange, bis ich alle deine Facetten wahrnahm und sich deine Unnahbarkeit und Unbeflecktheit in einer großen Buntheit aufzulösen begann.

Denn du hattest sie natürlich, die schmuddeligen Straßen abseits der Vorzeigeboulevards: Sperrmüll, Fahrradleichen, Nachtschwärmerspuren. Du hattest nicht nur gediegene Weinlokale und holzvertäfelte Traditionskaffeehäuser mit Trippelschrittdrehtüren, sondern auch die Erika’s-Treff-Gaststätten mit speckigen Spielautomaten und Rauchschwaden, die Kollektivcafés und Kulturkneipen mit entschleunigter Bedienung, die entspannten Äbbelwoi- und Biergärten und die stressigen Cocktailbars mit gesprächstötender Wummermusik.

Du hattest sowohl ruhmlose Absteigen als auch Nobeladressen wie den Schwarzen Bock am Kochbrunnen, der sich mit dem Superlativ des ältesten Grandhotels Deutschlands garniert und in dessen Badehaus schon Goethe in der Wanne entspannte, seine Einstellung zu Wellness-Annehmlichkeiten mit den Versen erörternd: „Beim Baden sei die erste Pflicht, dass man sich nicht den Kopf zerbricht, und dass man höchstens nur studiere, wie man das lustigste Leben führe.“ Oder den Nassauer Hof gegenüber dem Kasino, den Dostojewski fluchtartig geräumt haben soll, nachdem alle seine Rubel beim Roulette davongerollt waren, so dass seine nächste Produktion pressierte und er die burlesk-groteske Erzählung „Der Spieler“ seiner Assistentin und späteren Ehefrau Anna in nur 26 Tagen in den Stenoblock diktierte.

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Meistens sind die Straßen hui, manchmal aber auch pfui.
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Im Kasino verjubelte Dostojewski – hier imitiert bei einer Themenführung – alle seine Rubel.

Selbstverständlich hattest du nicht nur Haute Cuisine und den vielleicht deutschlandweit besten Mc Donald’s zu bieten, sondern auch deinen Wochenmarkt vor der Marktkirche und die ganzen kulinarischen Segnungen der so genannten „Personen mit Migrationshintergrund“, die heute ein Drittel deiner rund 280.000 Einwohner ausmachen: in der Moritzstraße, im Kiezsprech auch „Dönerstraße“ genannt, in der außerdem italiensche, arabische und asiatische Spezialitäten zu haben waren. Im Viertel um die Bleichstraße und die Wellritzstraße lockten türkische Läden mit drallem Gemüse und duftenden Fladen, gesäumt von Telekommunikationsshops, Ein-Euro-Ramschrampen, Shisha-Sportbars, dem Blockbuster-Kino „Arkaden“ und Schaufenstern mit Mode für die Schleier und bodenlange Gewänder tragende Frau.

Und freilich hattest du nicht nur die dekorativen bis dekadenzverdächtigen Traditionsfeste mit Champagner und roten Teppichen für den Schaulauf von Chanelkleidfrauchen mit frisch gefönten Handtaschenhündchen, sondern auch ganz unkomplizierte Plaisirprogramme wie das Biebricher Höfefest und das Folklore-Festival, das vom Schloss Freudenberg ins Kulturzentrum Schlachthof neben den Bahngleisen heruntergezogen war, deiner Bühne und Spielwiese für alles Alternative – Independent-Musik, Graffiti, Poetry Slam, Improvisationstheater. Gleich dahinter hatte das Murnau-Filmtheater eröffnet, so dass Cineasten sich nun endgültig im Filmkunsthimmel auf Erden wähnen konnten, gab es mit dem Caligari und dem Bambi doch schon zwei selten schöne Programmkinoperlen.

Und eines schönen Juni-Wochenendes präsentierte sich dein Straßenfestklassiker auf der Wilhelmstraße mit einer riesigen Schar von Kunsthandwerkern, Kleinkünstlern und daseinsfreudigen Menschen. Oder war das schon immer so gewesen? Wahrscheinlich. An den Juli-Wochenenden brachtest du mich in den Interessenskonflikt: Impro-Theater-Sommer auf dem Neroberg oder Open-Air-Kino in den Reisinger-Anlagen? Waren deine Sommernächte schon immer so lau gewesen? Sicherlich. Nizza des Nordens. Wie wunderwundervoll …

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In den Reisinger-Anlagen wird im Sommer Open-Air-Kino geboten.

Liebes Wiesbaden, bitte verzeih mir, dass ich dich so verkannt hatte. Deine wenigen städtebaulichen Problemzonen betrachtete ich auch erst kritisch, als du anfingst, sie zu verändern. Die Schönheitsoperation vor dem Bahnhof konnte nicht vollständig misslingen, denn mit dem alten Hauptpostklotz hatte die Hässlichkeitslatte auf einem unüberwindlich hohen Niveau gelegen. An dieser Stelle war also das „Lilien-Carré“ gelandet, ein neues Einkaufszentrum in der Form eines außerirdischen Flugobjekts. Wohl weniger wegen der fremdkörperartigen Aura als wegen der ungünstigen Lage und des profilschwachen Angebots verirrten sich zu wenige Konsumenten dorthin, weswegen nun Reanimierungsmaßnahmen laufen. Den Platz der Deutschen Einheit hattest du von seinem Ambiente eines verwahrlosten Busbahnhofs durch einen erdrückenden Neubau befreit. Schön, dass er nicht nur den x-ten Rewe-Supermarkt beherbergt, sondern auch eine Großsporthalle für Schüler und Vereine.

Die Haupteinkaufszone in der Kirchgasse und Langgasse hattest du mit Wasserspielen, einer Freitreppe am Mauritiusplatz und dem Shoppingcenter „Luisenforum“ ausstaffiert, was aber nicht davon ablenken konnte, dass sie rettungslos gesichtslos ist – so wie viele andere Einkaufsmeilen überall auf der Welt seit der epidemischen Ausbreitung internationaler Ketten für Backwaren, Bekleidung, Beauty-Artikel … Abseits davon bereicherte eine wachsende Zahl kleiner Geschäfte mit lebenswichtigen und weniger lebenswichtigen Sachen und Sächelchen deinen Konsumkosmos: Hofläden mit regionalen Erzeugnissen, Delikatessengeschäfte für Italo- und Frankophile, Boutiquen mit Bullerbü-Anziehsachen und schadstofffreien Baby-Ausstattungen, Läden mit Fahrrädern, Skateboards, Schmuck und Kunst in Unikat-Ausfertigung oder limitierten Auflagen.

Und irgendwann wurde mir auch klar, dass ich gar nicht in die Provinz gezogen war, sondern in das schmuckste und eines der grünsten Viertel der Metropolregion Rhein-Main. Ich hatte den größten deutschen Flughafen vor der Haustür und war in weniger als einer Stunde in den Theatern und Tanzschuppen von Frankfurt, Mainz und Darmstadt – in Berlin brauchte man zu manchen Veranstaltungsorten im Stadtgebiet länger. Ruckzuck konnte ich auch zu den Wander- und Laufparadiesen am Stadtrand gelangen, und zwar fast nahtlos durch die Blättertunnel der Kastanien- und Platanenalleen.

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Das ufoförmige Lilien-Carré neben dem Bahnhof
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Wasserspiele als Verschönerungsmaßnahmen in der Einkaufszone

Weil ich wissen wollte, wie Touristen meine Stadt erleben, bin ich neulich in die „Thermine“ gestiegen. Die Bummelbahn steht bei vielen Gästen auf dem Sightseeing-Programm und startet an der Marktkirche zu einer einstündigen Rundfahrt. An diesem sonnigen Septembernachmittag sind die Wägelchen mit Passagieren aus Deutschland, Russland und Fernost besetzt, was nicht ganz die Statistik spiegelt, denn die meisten der ausländischen Besucher reisen aus den USA an, deren Armee ihr Europa-Quartier vor drei Jahren von Heidelberg nach Wiesbaden verlegt hat. Aus dem Lautsprecher erfahre ich, warum sich schon die Römer und später die Herzöge von Nassau in der Gegend wohlfühlten. Während wir über die elegante Wilhelmstraße zockeln, im Volksmund auch „Rue“ genannt, berichtet die Lautsprecherstimme, dass Kaiser Wilhelm II. von der Herrlichkeit des Kurhauses hin und weg gewesen sein soll.

Wir rumpeln am Kurpark vorbei und zurück Richtung Innenstadt, dann weiter auf den einstigen Kuhberg, wo im Mittelalter das Vieh weidete und seit dem 19. Jahrhundert historistische Villen der prachtexemplarischsten Art thronen. Aus dem Lautsprecher ertönt nun Brahms’ 3. Sinfonie in F-Dur, die er bei einem Sommeraufenthalt 1883 hier oben vollendet hatte. Wir passieren die Dienstvilla des Hessischen Ministerpräsidenten und die blassgelbe Henkell-Villa der Sektkellerei, deren schlossähnliche Fabrik unten in der Biebricher Allee produziert. Wir lassen den Hochsicherheitstrakt des Bundeskriminalamts rechts und das Dambachtal links liegen, dessen Gestaltung auf den Städtebaumeister Felix Genzmer zurückgeht, der Ende des 19. Jahrhunderts mit einem romantisierenden Landschaftspark die pragmatisch-hygienische Stadtplanung seiner Zeit kontrastieren wollte.

Wiesbadens Topografie ähnelt einem Handabdruck, wozu die Lautsprecherstimme eine Sage zu erzählen weiß, die etwa so geht: In den dichten Wäldern des Taunus hauste einst ein Riese namens Ekko, dessen friedliches Naturell von einem Drachen strapaziert wurde, der ihm das Vieh von den Weiden stahl. Eines Tages rückte Ekko mit seiner Lanze aus, um den Lindwurm zu töten. Nach langem Herumirren vernahm er unter sich ein Grummeln, vermutete dort das Ungeheuer, rammte seine Lanze in den Boden, erntete aber nur ein spöttische Lachen, zog seine Lanze heraus und stieß sie erneut ins Erdreich, wieder und wieder, jetzt rasend vor Wut, weil jedes Mal kochend heißes Wasser aus den Löchern schoss und ihm die nackten Füße verbrannte. Dann traf ihn ein besonders kräftiger Strahl ins Gesicht, er verlor das Gleichgewicht und grub beim Abstützen seine Hand in den Untergrund. Ekko soll zerstört davongetorkelt sein und der Drache noch immer unter der Stadt sitzen, die Quellen mit seinem Feueratem auf Temperatur haltend.

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Historistische Prachtexemplarvilla auf dem einstigen Kuhberg

Über den Tränkweg bummeln wir weiter zur russisch-orthodoxen Kirche mit den goldenen Zwiebeltürmen hinauf. Herzog Adolph von Nassau ließ sie als Grabmal für seine Ehefrau errichten, die russische Großfürstin Elisabeth Michailowna, nachdem sie im Alter von 19 Jahren im Kindsbett mitsamt der Tochter verstorben war. Auf der Nerobergstraße quietschen wir den Berg wieder hinunter zur Talstation der Nerobergbahn. Diese steht unter Denkmalschutz, weil sie die steile Strecke über das Viadukt zum Hausberg noch auf die gleiche Weise wie bei der Inbetriebnahme im Dreikaiserjahr 1888 zurücklegt: Ihr Drahtseil-Zahnstangen-System wird mit Wasserballast betrieben.

Durch das prachtvillen- und prachtparkgeschmückte Nerotal tuckern wir in die Taunusstraße, die von der Lautsprecherstimme als eine der bedeutendsten Kunst- und Antiquitätenmeilen Deutschlands gepriesen wird, und erreichen den Kochbrunnenplatz, an dem sich das Wutwerk Ekkos bewundern lässt. Es dampft aus Kanaldeckeln und dem Trinktempel, in dem man das nach Schwefel riechende und salzig schmeckende Heilwasser probieren kann. Tag für Tag befördern die 26 Quellen von Wiesbaden zwei Millionen Liter Wasser aus tausenden von Metern an die Erdoberfläche. Die weiße Fassade des Schwarzen Bocks erscheint zur Linken, dann wieder der Schlossplatz mit der Marktkirche und dem Marktbrunnen, auf dem der Nassauer Löwe mit dem Dreililienwappen in den Pranken wacht.

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Die Rundtour mit der Bummelbahn Thermine führt auch zur russisch-orthodoxen Kirche und …
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… zur Talstation der historischen Nerobergbahn. Diese fährt hinauf zum …
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… Neroberg, von dem der Blick weit über die Stadt reicht.

Und nun war wieder das Bild von der Stadt auferstanden, wie sie mir anfangs erschienen war – schön, sehr schön, in Schönheit erstarrt. Doch jetzt, liebes Wiesbaden, wusste ich: Das bist du nur auf den ersten Blick. Irgendwann hattest du dich zu einem bunten Schmetterling entfaltet, der noch weit fliegen kann, wenn man ihn lässt.

ZU BESUCH IN DER KAISER- UND WELTKURSTADT
Informationen zu Sehenswürdigkeiten, Stadtführungen und Übernachtungsmöglichkeiten sind auf dem Tourismusportal von Wiesbaden zu finden. Veranstaltungstipps bietet unter anderem das Stadtmagazin „Sensor“.

Parks, Kneipen, Kinos, Feste  – meine 10 Lieblinge:

Café Klatsch (Ecke Marcobrunner Straße/Eltviller Straße): Die Kneipe im Rheingauviertel wird seit über 30 Jahren als Kollektiv betrieben. Bunt zusammengewürfelte Sitzgruppen, Stehlampen und eine Bücherecke verbreiten urgemütliche Wohnzimmeratmosphäre. Vegetarier können zwischen Leckereien wie Chili sin carne und Camembert-Baguette mit Preiselbeermarmelade wählen.

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Caligari Filmbühne (hinter der Marktkirche): Schwarze Wände, goldene Kelchleuchten und breite Sessel aus rotem Samt: Das Caligari sei ein „Juwel unter den Lichtspielhäusern“, schwärmte schon Regisseur Volker Schlöndorff. Arthouse-Produktionen und Stummfilme mit Live-Musik stehen ebenso auf dem Programm wie Kinderfilme und das „Go East“-Festival für mittel- und osteuropäische Filmkunst.

Albrecht-Dürer-Anlagen: Der Park ist weder so elegant wie der Kurpark noch so groß wie die Reisinger-Anlagen, aber gerade deswegen einer der besten Plätze zum Entspannen. Mitten durch die Anlage plätschert der Kesselbach. Yoga- und Tai-Chi-Gruppen sind hier ebenso anzutreffen wie lesende Studenten und grillende Familien.

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Canal du Midi (Ecke Blücherstraße/Scharnhorststraße): Die Weinbar im Westend verwöhnt mit Käse, Oliven, Flammkuchen und wechselnden Weinen. Bei schönem Wetter werden draußen Metalltische aufgeklappt – fehlen nur die Platanen und Pétanque-Spieler zum vollendeten Südfrankreich-Gefühl. Im Winter gibt’s freitags DJ-Musik von Nouvelle Chanson bis Balkan Beats.

c/o (Moritzstraße): Mitten in der wuseligen Moritzstraße zwischen Kaiser-Friedrich-Ring und Einkaufszone lädt die schummrige Bar-Lounge zum Chillen ein – im Sommer auch mit Hollywoodschaukeln und Strandkörben unter der Kastanie im Hinterhof. Von der Pizzeria „Pisa“ nebenan kann man sich italienische Küche servieren lassen.

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Impro-Theater-Sommer: Jedes Jahr an den Juli-Wochenenden präsentiert das Wiesbadener Ensemble „Für Garderobe keine Haftung“ im Amphitheater auf dem Neroberg ein Impro-Theater-Festival mit allen möglichen Formaten des Genres. Wer gerne Tränen lacht, darf das Schauspiel nicht verpassen – schon gar nicht das Finale mit den größten Talenten der Szene.

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Treibhaus (Klarenthaler Straße): „Wir treiben’s bunt – kulinarisch, musikalisch und auch sonst!“ – unter diesem Motto will die am Stadtrand gelegene Gaststätte mit Bier- und beheiztem Wintergarten ihren Besuchern ein Gefühl von Kurzurlaub bescheren. Das Speisenspektrum reicht von Handkäs in Apfelwein bis zu Lammrücken vom Lava-Grill.

Schlachthof und 60/40 (Murnaustraße): Einst Freak-Treff, heute eine angesagte Location für alles jenseits des Mainstreams – das ist das Kulturzentrum Schlachthof hinter dem Bahnhof. Nach Umbauten stehen nun neue Hallen für Konzerte und Projekte zur Verfügung. Die Kneipe 60/40 ist in den historischen Wasserturm umgezogen und lockt mit Kaminfeuer und sonnigem Biergarten.

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Chopan (Bleichstraße): Die Tea-Lounge und Tanzbar im Westend wird von manchen als einzig wahrer Szene-Club der Stadt gehandelt. Teppiche und niedrige Tischchen sorgen für orientalisches Ambiente, DJs und Live-Bands für fabelhafte Feierstimmung bis in die Morgenstunden.

Lex Deux Dienstbach (Untere Albrechtsraße): Das Restaurant wird – wie auch die Cocktail-Bar „Tante Simone“ am Sedanplatz – von den Zwillingen Jennifer und Nathalie Dienstbach betrieben. Deren Mutter stammt aus Frankreich, was die durch und durch französische Aufmachung beider Lokale erklärt. Kostprobe von der Speisekarte: frisches Landbrot gratiniert mit Ziegenkäse, Nüssen und Lavendelhonig.

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Fotos: pa

15 Comments

  • Klingt nach einer problematischen Annäherung mit Happy End. ;-) Prädikat „lesenswert“ wie alles auf deiner Seite.

  • Ich finde, bei diesem Bericht bist du mal wieder über dich selbst hinausgewachsen. Durchweg informativer Lesespaß.

    • Das ist schön – solange es nicht bedeutet, dass ich mitwachsen muss. ;-) Immer dann, wenn ich in einem der Sardinenbüchsenfluggeräte sitze, wird mir bewusst, dass ich keinen einzigen Zentimeter größer sein will … :-)

  • Fantastische Unterhaltungskunst! Und als Wiesbaden-Kennerin kann ich sagen: genau so isses, leider auch das mit der Radwege-Problematik … katastrophal und nicht zeitgemäß.

  • Eine anschauliche Führung durch unsre Stadt,die auch manchem Eingeborenen noch etwas zu sagen hat und beweist, dass man liebt, was man sich vertraut gemacht hat.Mir gefällt außerdem die sprachliche Darstellung, die sich wohltuend von üblichen Reiseführern unterscheidet.

  • leider hält sich das Gerücht, dass die Wiesbadener spiessig sind, war es jedoch noch nie, denn der echte Wissbadener sagt, was er denkt, meist auf Wiesbadener Platt, da kann auch der Prof. einem die Meinung auf hessisch „blasen“ :-) schöner Bericht und viel schöner finde ich, dass die echten insider nicht genannt werden somit Insider bleiben :-)

    • Kleiner Nachtrag: Ich möchte mich bei den Lesern bedanken, die mir weitere Wiesbaden-Empfehlungen (Äbbelwoi Schmidt, Winzerstübchen, Heimathafen, Hacienda, Weinländer, Sherry & Port …) via E-Mail gesendet haben. Natürlich ließe sich die Aufzählung problemlos verlängern. Allerdings soll und kann sie weder den Anspruch auf Vollständigkeit behaupten noch den Status von „Insider-Tipps“, an deren Veröffentlichung ein Verfallsdatum gebunden ist. ;-)

  • Spießbaden. In vielen anderen Städten gewohnt und was soll ich sagen. Mit Abstand die langweiligste Landeshauptstadt in der ich je wohnen durfte. Da werden ein paar Cafe’s aufgezählt und als Argument gegen die Spießigkeit gefeiert. Sorry aber Wiesbaden ist tatsächlich eine schöne aber sehr biedere Stadt.

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