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Wo das wendische Bunthuhn schlüpft


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Wenn man mal eine Pause von der Welt braucht, dann kann es sich gut anfühlen, sich für einige Tage ins Wendland zu verkrümeln. Hier bauen Biber, duften Kiefern, zeigen Rundlingsdörfer bäuerliche Traditionen und kümmern sich Heiler um die Harmonisierung von Körper, Geist und Seele. Das einzige, was die Idylle durchkreuzt, ist das „X“ der Anti-AKW-Szene.

Wir sind noch nicht weit auf dem zugewucherten Biberlehrpfad bei Gartow vorgedrungen, als wir auf einer verblichenen Tafel lesen: „Man schuppt den Schwanz ab, kocht ihn in Essig, Wasser und etwas Salz weich und wendet ihn alsdann in zerquirltem Eigelb und geriebenem Zwieback. Dann begießt man ihn mit Butter, brät ihn auf dem Roste braun und serviert ihn mit Zitronenscheiben.“ Tierschützer brauchen sich jetzt nicht aufzuregen, denn die Zubereitungsempfehlung für den perfekt panierten Biberschwanz entstammt einem Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche aus dem Jahre 1894.

Im Nordosten von Deutschland galt der Nager allerdings schon damals als ausgerottet. Ein einzelnes Exemplar wurde 1936 gesichtet – vermutlich ein Zuwanderer aus der mittleren Elbe, wo die letzten Biber des Landes lebten. Die katholische Kirche hatte das Schicksal der Biber beschleunigt, indem sie die Spezies wegen ihres schuppigen Schwanzes kurzerhand mit Fischen gleichsetzte und als legitime Fastenspeise deklarierte. Außer dem delikaten Fleisch war aber auch das dichte Fell des Bibers in Europa und Amerika begehrt: Eine Flinte, ein Kupferkessel, zwölf Pfund Glasperlen oder ein Päckchen Tabak ließen sich damit bei den Indianern einhandeln. Und Biber galten als schwimmende Apotheken. Sie produzieren ein Drüsensekret für die Fellpflege und Reviermarkierung, das die Menschen als Mittel gegen alle möglichen Gebrechen und unter dem Label „Bibergeil“ auch für längere Liebesleistungen einsetzten.

Im Wendland sind die Biber zurück. Und obwohl wir an diesem brütend heißen Vormittag im Juli keinen der nachtaktiven Gesellen entdecken, können wir uns bestens vorstellen, dass sich die Tiere in den Ausläufern des Gartower Sees pudelwohl fühlen – unter den Bäumen und Sträuchern, die ihre grünen Baldachine über die Ufer strecken, gesäumt von Gottesgnadenkraut, blühenden Disteln und Blutweiderich, weiß, rosa, lila, drumherum Wiesen und vereinzelte Backsteinfachwerkhäuser, auf deren Schornsteinen Weißstörche ihre Jungen auf den Abflug in die große weite Welt vorbereiten.

Wendland_Gartow_Biberlehrpfad
Der Biberlehrpfad bei Gartow informiert über die Lebensweise und Bejagung des Nagers.
Wendland_Gartow
Wir sehen zwar kein Exemplar, aber dafür eine Idylle: Fachwerkhäuser, …
Wendland_Heuballen
… Felder und …
Wendland_Stoerche_Gartow
… Storchenfamilien.

Gartow liegt an der Deutschen Storchenstraße, die quer durch das Wendland mäandert. Weißstörche zählen zu den gefährdeten Brutvögeln Deutschlands, obwohl sie hierzulande nicht wie die Biber in der Pfanne landeten. Bereits im Alten Testament wurde der Verzehr der als unrein kategorisierten Vögel verboten, woraus das Sprichwort „Da brat’ mir einer einen Storch“ als Ausruf der Verwunderung hervorgegangen sein könnte. Und wer wusste denn schon genau, ob es nicht auch Unheil bedeuten konnte, einen Glücksbringer zu verspeisen, was der Spitzname „Adebar“ aus dem Althochdeutschen übersetzt bedeutet. Und schließlich hatten Störche auch als Babylieferanten eine wichtige Tätigkeit zu verrichten.

In manchen Gefilden, welche die Zugvögel auf ihrer weiten Reise zu den Winterquartieren südlich der Sahara durchqueren, scherte man sich freilich zu keiner Zeit um die Klapperstorchmär oder biblische Speisevorschriften und jagte die Tiere. Bedrohliche Rückgänge waren jedoch erst im 20. Jahrhundert zu verzeichnen, als sich die Brutgebiete in Mitteleuropa durch Entwässerung, intensive Landwirtschaft und versiegelte Flächen dezimierten. Weißstörche lieben offene Landschaften – Flussauen und Niederungen mit feuchten Weiden und Wiesen, die ihnen fette Frösche, Fische und Regenwürmer vor den Schnabel liefern.

Im Urstromtal der Elbe können sich die Vögel an einem reichhaltigen Büfett bedienen. Mit Niedrigwasser in den Sommermonaten und überfluteten Wiesen in den Übergangszeiten schafft der Fluss paradiesische Bedingungen für eine mannigfaltige Tier- und Pflanzenwelt. Und weil der Landstrich einmal Zonenrandgebiet war, blieb der Kreislauf aus Wuchern und Welken, Geben und Nehmen, Fressen und Gefressenwerden lange Zeit unbehelligt. 1997 stellte die Unesco das Gebiet im Dreiländereck von Niedersachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt dann als Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue unter Schutz. Heute verläuft hier auch das Grüne Band, ein länderübergreifendes Naturschutzprojekt mit dem Motto „Grenzen trennen. Natur verbindet!“ Vielerorts seien die Relikte aus der Zeit des Eisernen Vorhangs noch zu sehen, so hatten wir gelesen: Stacheldrahtzäune, Wachtürme, der Grenzübergang bei Bergen an der Dumme.

Wir haben bisher eine Gegend erlebt, in der wohl auch Hobbits gerne hausen würden. So lieblich sind die Auenlandschaften mit Schwarzpappeln und Schwanenfamilien, so kontemplativ die Getreidefelder, die sich wie goldene Meere bis zum knallblauen Himmel ziehen, so himmlisch duften die Kiefernwälder, so behaglich erscheinen die Backsteinhäuser im Schatten alter Eichenalleen, mit geschnitztem und getöpfertem Zierrat in den verwuschelten Gärten. Und würde nicht immer wieder das gelbe „X“ die Idylle durchkreuzen – man könnte glatt vergessen, dass im Wendland eine erbitterte Fehde um die Zwischen- und Endlagerung von Atommüll tobt, fast vier Jahrzehnte geht das nun schon. So aber erinnert das Symbol der Anti-AKW-Bewegung auf Schritt und Tritt an die Bilder der Ankettaktionen und Treckerkolonnen gegen die Castor-Transporte nach Gorleben: Das „X“ ist auf Bäume gesprüht und aus Brettern an Scheunentore genagelt, es prangt auf T-Shirts und Tassen, klebt auf Karossen und baumelt an Schlüsselbunden und Autorückspiegeln.

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Abschalten geht im Wendland doppelt gut: Die Landschaft ist kontemplativ und der Netzempfang spärlich.
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An heißen Sommertagen duften die Kiefernwälder himmlisch holzig.

Während unserer Fahrt über die Dörfer stellen wir fest, dass unser Plan, einige Tage vom Rest der Welt abzuschalten, besser funktioniert als erwartet. Das Smartphone hat nur kurz zwischendurch Empfang – keine Versuchung, die neuesten Horrorschlagzeilen zu lesen, und keine Chance, die Sehenswürdigkeiten im Umkreis abzufragen. So lassen wir uns treiben und erreichen gegen Mittag Schnackenburg an der Elbe. Die Sonne produziert jetzt Temperaturen, die man eher mit Tropenzonen als dem Norden von Deutschland assoziiert. Von den 600 Seelen, die in der kleinsten Stadt Niedersachsens leben, ist nur eine zu sehen. Wo man hier was essen kann, fragen wir den Mann und erhalten die alternativlose Antwort: „Hafencafé Felicitas“. Wir finden einen Platz im Schatten und bestellen Currywurst und gebackenen Camembert. Grüppchenweise trudeln Radfahrer vom Elberadweg ein – mit Gesichtern, Frisuren und Kleidern, in die sich die Strapazen des Strampelns bei Saunaklima eingeschrieben haben. An vielen Gepäckträgern hängen dralle Satteltaschen, auf manchen türmen sich komplette Campingausrüstungen. Man könnte streiten, ob es noch tapfer oder schon selbstzerstörerisch ist, an einem Tag wie diesem irgendein Aktivprogramm durchzuziehen, gleichwohl die Region in dem Tourismussegment viel bietet – Wandern, Radeln und Reiten, Paddeln, Surfen und Segeln, Planwagentouren, Tandemsprünge und Sofafloßfahrten. In anderen Ländern hält man bei solcher Hitze einfach Siesta.

Wir entscheiden uns für die Mitte und bewegen uns gemächlich durch das Dorf – pardon, die Stadt. Es gibt eine Kirche, eine Pension „Deichgraf“, eine Ölmanufaktur mit einer Palette von Aprikosenkernöl bis Walnussöl, Fachwerkhäuser mit Efeuteppichen vor den Türen und andere Fachwerkhäuser, die etwas bewohnter aussehen. Im alten Fischerhaus am Hafen ist das Grenzlandmuseum mit Uniformen und Ausrüstungen von DDR-Truppen eingezogen. Bis zur Wende war in Schnackenburg Schluss, die Elbe bildete die innerdeutsche Grenze. Vom Fahnenplatz auf dem Deich erinnert die Ortschaft ein wenig an die Tankstellen in Roadmovies als letztes Insigne der Zivilisation vor der Wildnis. Heute kann man mit einer kleinen Fähre ans andere Ufer übersetzen. Wenige Minuten später rollen wir auf brandenburgischen Boden.

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Am Fähranleger in Schnackenburg

Nach kurzer Fahrt stehen wir zu Füßen der Burg Lenzen. Wir schlendern durch den „Naturpoesiegarten“, der Bachläufe, Baumriesen und Kräuterwiesen mit Zitaten von Naturphilosophen kombiniert – Kant, Paracelsus, Bloch, Meister Eckhart, und entdecken wieder Weißstörche auf einem Schornstein. Kehren die Vögel aus dem Winterurlaub in Afrika zurück, bevorzugen sie denselben Horst wie im Vorjahr – es sei denn, der Ex-Partner oder die Ex-Partnerin war schneller und hockt schon mit einem neuen Partner oder einer neuen Partnerin darin. Weißstorchpaare sind sich während der Brutzeit zwischen April und August treu, nicht jedoch ein Leben lang. Das Bebrüten der Eier teilen sie sich fifty-fifty: Jeder hält etwa zwei Wochen lang die Stellung. Während uns der Schweiß aus allen Poren rinnt, fragen wir uns, warum die Jungstörche auf dem Dach noch nicht aussehen wie Grillhähnchen. Es muss wohl so sein, dass das weiße Gefieder und die körpereigene Sonnenlotion aus Kot, mit der sie sich die Beine eingeschmiert haben, ausreichend Schutz bieten.

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Störche verwenden ihren eigenen Kot als Sonnenlotion.
Wendland_Stoerche
Das erklärt die weißen Beine.

Von Lenzen nehmen wir die Fähre zurück zum niedersächsischen Elbufer. In Hitzacker streifen wir durch kopfsteingepflasterte Gassen mit Fachwerkhäusern, an denen zwischen Efeu und Stockrosen das gelbe „X“ leuchtet und „Atomkraft? Nein danke“-Fahnen stecken. Auf einer Tafel neben der St. Johannis-Kirche fordert die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde unter Berufung auf ihre Verantwortlichkeit für die göttliche Schöpfung den unverzüglichen Ausstieg aus der Kernenergie. Man will im Wendland aber nicht nur widerständig sein, sondern auch zeigen, wie es anders geht. So profiliert sich der Landkreis Lüchow-Dannenberg als Modellregion für erneuerbare Energien und ökologische Landwirtschaft. Es heißt, dass hier das erste Biogas produziert und die erste Biogastankstelle Deutschlands eröffnet wurde. Und in Lüchow, wo mit einer 1.000-köpfigen Bürgerinitiative die Zentrale des regionalen AKW-Protests sitzt, bietet die Akademie für erneuerbare Energien nun auch einen Master-Studiengang an.

Wendland_Hitzacker_Atomkraft
Protestkultur in der Provinz: eine Gasse in Hitzacker

Am Abend auf der Terrasse unserer Ferienwohnung in Prezelle lauschen wir in die Stille. Die Luft ist lau, nach und nach poppen Sterne auf. Friedvoller kann es auf Erden nicht sein. Das erklärt auch, warum die Gegend so viele Alternative und Kreative anzieht. Biobauern, Künstler, Aussteiger, Esoteriker – sie alle werkeln hier an der Umsetzung ihrer ökologisch oder spirituell motivierten Lebensträume. Schon weil sich aber von der gesündesten Landluft und der innigsten Naturliebe allein nicht leben lässt, öffnen viele ihre Ateliers und Höfe auch für Besucher. So kann man in der wendländischen Provinz aus einem globalen Best-of-Programm der Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung wählen – Yoga aus Indien, Schamanismus nach Indianertraditionen, hawaiianische Lomi-Lomi-Massagen. Man kann Experten für Geomantie (eine Form des Hellsehens) und Homa-Therapie (ganzheitliches Heilverfahren mit Feuerritualen) konsultieren und Kurse für Aquarellmalen, Vollkornbacken oder Kräuterkunde belegen. Wir schauen in die Sterne und beginnen gerade an der Erkenntnis zu zweifeln, dass doch jedes Paradies seine Schlange hat, da starten die Stechmücken zur ersten Attacke.

Als „Wilder Osten“ wird die Region auch bezeichnet, wegen der dünnen Besiedelung und der urwüchsigen Natur wahrscheinlich. Anderntags wähnen wir uns eher im Wilden Westen. Die Hitze flirrt über dem Asphalt, als wir durch die menschenleeren Straßen von Satemin spazieren. Wir wollen einen Rundling sehen. Die Dörfer gehen auf slawische Siedler zurück, im norddeutschen Raum auch Wenden genannt. Etwa 100 Rundlinge soll es im Wendland noch geben. Man findet sie aber nicht automatisch, weil sie abseits größerer Straßen liegen. In Satemin betreten wir ein Prachtexemplar der mittelalterlichen Siedlungsform, die aus ringförmig um einen Dorfplatz gruppierten Hallenhäusern besteht. Als wir im Baumschatten an der Milchbank pausieren und den Blick über die mit Spruchbalken, Blumenornamenten und gelben „X“ verzierten Fassaden schweifen lassen, denken wir wieder an Hobbits, die hier sicher gerne wohnen würden. Allerdings wären die riesigen Backsteingebäude, die früher die Bauernfamilien nebst Vieh, Futtervorräten und Gerätschaften beherbergten, für die Fantasy-Halblinge reichlich überdimensioniert. Inzwischen haben sich viele der Niederdeutschen Hallenhäuser in Künstlerwerkstätten verwandelt. Es wird getöpfert, geschreinert, gemalt, geschmiedet, gestrickt und gefilzt in den hohen Dielen.

Im Rundlingsmuseum im Nachbarort Lübeln wollen wir in Erfahrung bringen, ob die Dörfer noch eine andere Funktion hatten außer hübsch auszusehen und ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln. Doch wie es scheint, sind sich die Gelehrten darüber bis heute nicht einig. War der Rundling ein Wehrdorf? Eher nicht, die Dächer waren strohgedeckt und leicht in Brand zu setzen. War der Rundling ein Viehkral? Eher nicht, der Boden war zu matschig. Folgte die Bauweise kultischen oder kommunikativen Motiven? Vielleicht. Oder war sie nichts anderes als eine zweckfreie Modeform? Könnte sein. In der Mitte des Freilichtmuseums zeigt das „Heimathaus“, wie die Bauern damals lebten: Spinnräder, Nachttöpfchen, Futterkörbe, alles da. Es ist ein Hallenhaus in Dreiständerbauweise, außerdem gibt es die Bauten mit Zwei- und Vierständerkonstruktionen. Drumherum stehen ein Backhaus, ein Flachshaus, eine Schmiede, eine Stellmacherei und eine Töpferei. Dort können wir beobachten, wie zwischen den Händen der Töpferin ein seltener Vogel schlüpft: das so genannte „wendische Bunthuhn“. Bunthühner gibt es in verschiedenen Größen, so dass sie sowohl für die Haltung im Nippesregal als auch im Garten geeignet sind. Dank einer internationalen Liebhaberschar soll die Spezies mittlerweile auch in anderen Teilen der Erde vorkommen. Bei den Wenden war das Huhn ein Symbol für alles Gute – Frühling, Fruchtbarkeit, Wohlergehen, Leben.

Wendland_Rundlingsdorf
Rundling in Satemin. Das Anti-AKW-Symbol sieht man hier …
Wendland_Satemin_X
… mehrfach.
Wendland_Rundling_Museum_Luebeln
Das Rundlingsmuseum in Lübeln zeigt auch eine …
Wendland_Rundling_Museum2
…. Ausstellung zur Entstehung der Siedlungsform. Fazit: Keine der Theorien darf als gesichert gelten.
Fotos: pa

BIBER, BUNTHÜHNER UND BÜRGERINITIATIVEN
Weitere Informationen zum Wendland gibt es unter www.region-wendland.de/home und unter http://elbtalaue-wendland.de. Alternative und Kreative, die ihre Türen für Besucher öffnen, stellen sich unter www.wendland-hautnah.de vor. Das Rundlingsmuseum Wendlandhof ist unter www.rundlingsmuseum.de zu finden, die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg unter www.bi-luechow-dannenberg.de.

13 Comments

  • Schöner und ausführlicher Bericht. Gutes Beispiel, das man nicht in „die Ferne schweifen“ muss um es schön zu haben und sich vom Alltag zu erholen.

  • Sehr lehrreiche Reisereportage. jetzt weiß ich Bescheid über das Wendland, wo einen Freundin dauernd hinfährt und ziemlich begeistert ist. Auch die Fotos gefallen mir sehr gut. Viele Grüsse Dirk

  • Gern zu lesender Text. Fotos, die dem Auge und der Seele wohltun. Gefällt mir persönlich besser als die Fernreise-Geschichten. Die Anti-KKW-Geschichte ist angesichts der m.E. unlösbaren Endlager-Frage (Es gibt keine sicheren geologischen Formationen für „Endlagerung“) nachvollziehbar seit Beginn der regierungsseitig vorgenommenen Standortwahl. Schade, dass sich der (vielleicht techn. historisch gewordene) Anti-KKW-Gedanke so mit dem politischen Umfeld der ideologischen „Grünen“ verknüpft. Schade auch, dass sich offenbar viele Eso-Freaks von diesem offenkundig hübschen Fleckchen Erde angezogen fühlen (Mangel an Bodenständigkeit).

    Man könnte vielleich noch Näheres zur historischen Bau- und Nutzungsform der Fachwerkbauten schreiben. (Mensch/Vieh scharf getrennt oder halb gemeinsam hausend? Wohn- und Land-Wirtschaftsbereich waren ja offenbar nicht getrennt) -> Niederdeutsches Hallenhaus (Fleetdeelenhaus) in Wendländischer Regionalausführung / -> „Einhaus“ = Wohnstatt, Stall, Erntebergung unter demselben Dach. Fachwerk“technische“ Begriffe wie „Hallenhaus in Dreiständerbauweise“ (Ständerbau versus Rähmbau) würden sich näher erläutern lassen, zumal sich die Anzahl der tragenden (!) Ständer nicht zwangsläufig in der äußeren Giebelgestaltung abzeichnen muss. Naja, vielleicht zu sehr bei einem speziellen Aspekt des Textes in die Tiefe gehend, mag sein.

    Was mir immer ein wenig misshagt: wenn gewachsenes ländliches Leben als „weltfern“ bezeichnet wird. Ein „metrosexueller“ Hipster im Porsche 550 scheint mir weltferner, abgehobener. Zugegeben – ich bin geborenes Landei.

    Insgesamt: schön!

    • Zur Frage, die Nutzungsform der Niederdeutschen Hallenhäuser betreffend: In genanntem „Heimathaus“ stellte es sich so dar, dass das Vieh offenbar in der Diele untergebracht war und die Menschen in separaten Räumen dahinter geschlafen, gekocht, gewebt und gesponnen haben. Die Ständerbauweise habe ich nicht weiter ausgeführt in der Annahme, Details würden nur einen Bruchteil der Leserschaft interessieren. Dazu kann ich folgendes Bild nachliefern:

      <img src="Bilder-Upload.eu - share DEINE Bilder“ alt=“Wendland Hallenhäuser“ />

      Und zum – berechtigten – Kritikpunkt „weltfern“: Das kann man sicherlich so (miss-)verstehen, allerdings sollte die „Welt“ in diesem Fall lediglich als Synonym für Hektik, Lärm und „Online-Sein“ gelten. Der skizzierte Großstadt-Hipster mag genauso weltfern oder weltgestaltend sein wie der Feuerrituale praktizierende Schamane im Wendland, dito gewachsenes ländliches Leben vs. gewachsenes urbanes Leben.

  • Fürchte fast, ohne „online“ kommt man heut auch auf dem Land kaum mehr aus – wenn ich mir die Computerausstattung aktueller Traktoren vergegenwärtige. Die GPS-Systeme sind mittlerweile sehr fein geworden. Und nicht jeder möchte Phytophthora-Kartoffeln einlagern, mögen sie auch noch so bio sein.

    Beim „Schamanen“ vermag ich nicht zu beurteilen, ob er jetzt tatsächlich für „das Ländliche“ stehen könnte oder eher einem pubertätsaufflackernden, ortsunabhängigen Sinnsuchen gerecht wird. Gibt auf dem Land auch noch „normale Bauern“. Mit dem „gewachsenen ländlichen Leben“ meinte ich persönlich vor allem den familiären Sinn für die Tradition der Väter, der sich in der nicht-musealen Nutzung historisch gewordener Bausubstanz offenbaren mag.
    Bei der Gegensatzkonstruktion kommen fürchterlich peinliche Bilder von Rosamunde-Pilcher-Schmonzetten in den Kopf. Der Hipster in diesem Fall weiblich, beispielhalber aus Hamburg, mit offenem Sportcabrio in die „Backwoods“ strebend, um irgendein Erbe anzunehmen, dort auf einen „Landadeligen“ treffend (Nachbarschaft der greisen Mutti), der seine „weiche Seele“ (Gedichte schreiben) unter harter Schale schützt (alten, blattgefederten Landy fahren, nicht ohne Seilwinde oder Kuhfanggitter, wahlweise auch zu Araberhengst die Erntearbeiten auf den Landgütern mit paternalistisch-freundlichen Worten begleitend). Die Vorstandsvorsitzende des börsennotierten Rüstungsunternehmens findet ob ihres entbrannten Begehrens (trotz noch gegenwärtiger Enttäuschungen aus der großen Stadt) zur Scholle der Vorväter zurück (Glyphosat-frei bewirtschaftet usw. und schmiedet Schwerter zu Pflugscharen. Was im heutigen Kontext der multikulturellen Streuobstwiese entspricht.

    Zu den Ständern (nun je): Stimmt, wäre in der Zielgruppenansprache falsch gewesen, zu tief auszuführen. – Der Grund für das „gemeinsame Wohnen mit dem Vieh“ war naheliegenderweise die Wärmeausbeute des Viehs im Winter. Kommentar gekürzt, bitte bleiben Sie beim Thema.

    Danke für die Rückmeldung / Erläuterung.

  • Noch was: Ich bin jetzt tatsächlich bei den „Rundlingen“ hängengeblieben. Täuscht mich mein Eindruck, dass es bei dieser Siedlungsform keine Kirchen oder sonstwie erkennbaren Sakralgebäude gibt/gab? (die im allgemeinen ja den Mittel-, da Ursprungspunkt der gesamten Siedlung bildeten, zumindest regelhaft bei Haufendörfern. War es üblich, die Kirchen außerhalb der Siedlung, abgelegener, zu bauen? Oder gab es sie gleich gar nicht? Die älteren der vorhandenen Deelenhäuser (wohl überwiegend Satteldachbauweise, Krüppelwalm scheint selten) mögen aus dem 18. Jahrhundert stammen? Wann genau wanderten denn die Wenden (Slaven?) zu? Waren die Zuwanderer (noch) nicht-christlichen Glaubens? Vielleicht gibt das ja einen (Sakral-)Hinweis auf den von den häuserumgrenzend gebildeten Dorfplatz?

    Dass man dort das Vieh besser, da unmittelbarer unter Beobachtung hatte, mag zwar auch sein. Allerdings bildet solch ein Platz ja keine dauerhafte Weidemöglichkeit. Ich tippe daher auf den Kommunikationscharakter (gegenseitige soziale Kontrolle sowie sozialer Austausch) des von den Bauten umrundend gebildeten Platzes.

  • Ich hatte noch ein wenig nachgegugelt. Die Wenden („Slawen“) selbst scheinen bereits im 17./18. Jahrhundert dort ausgestorben zu sein (oder ausgestorben worden zu sein), auch sprachlich. Offenbar wurden sie von irgendeinem seinerzeitigen Herrscher dort (gegen einen anderen seinerzeitigen Herrscher?) als Neusiedler-Bauern (Sklaven? Leibeigene? Freie?) etabliert. Möglicherweise als Neubürger, möglicherweise in Stellung gebracht gegenüber einer bereits vorhandenen Bevölkerung. Ich stelle deshalb die Theorie auf, dass keineswegs der Platz in der Mitte der Rundlinge allzu bedeutungsträchtig war als vielmehr der Abschottungscharakter nach außen hin. M.E. würde es sich lohnen, im Außenbereich der Rundlingsdörfer nach Resten von Wehranlagen zu graben. Jedenfalls drängt sich mir der Vergleich zu einer Wildwest-Wagenburg (z.B. gegen Indianerangriffe) auf. Frauen, Kinder und Vieh in die schützende Mitte. Die Männer mit der Winchester auf dem Kutschbock. Ggfs. noch: Kibutz-Vergleich.

    Die Mehrzahl der erhaltenen Gebäude scheint historisch neueren Datums. Gehe deshalb davon aus, dass die Nachfolger der slawischen Siedler im Wendland deren Hausformen der Einfachheit halber dergestalt übernommen haben.

    Jedenfalls ist auch solch eine „prägnante“ Dorf- oder Weiler-Form nicht ohne impulsgebende politische Voreinstellungen denkbar.

    • Die Gebäude, die heute in den Rundlingen im Wendland stehen, stammen aus dem 17./18. Jahrhundert, allein die Siedlungsform geht auf die Slawen zurück (sie verehrten Naturgottheiten). Gegen die Theorie eines „Wehrdorfes“ spricht offenbar, dass die Häuser eben nicht wehrhaft waren. Ob im Umkreis nach Wehranlagen gebuddelt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

  • PS:
    Dann wären die Sachsen also nicht die letzten gewesen, die Widerstand gegen das aus Nahost via Rom vorrückende Christentum (in Gestalt der Karolinger) geleistet hätten? Von wegen der „erst später anrückenden Missionare“.

    Wurde dargelegt, welcher Art Religion oder Spiritualität die historischen Wendland-Slawen frönten? (Auch Slawen waren mit Sicherheit nicht einfach bloß „Slawen“, sondern hatten mit Sicherheit eine Art Religion.

    Die ersten „Rundlinge“ aus der „Kontaktzone zwischen Deutschen und Slawen“ scheinen aus dem 9. Jahrhundert zu stammen, im Wendland selbst aus dem Hochmittelalter, also jedenfalls weit nach der damaligen Völkerwanderungszeit, die ihrerseits einher ging mit dem Niedergang des weströmischen Reiches.

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