Heinrich Heine schmähte die Hansestadt zwischen Elbe und Heide einst als „Residenz der Langeweile“. Heute vermengt sich in Lüneburg ein Tourismus, der um Historisches und die Drehorte der ARD-Telenovela „Rote Rosen“ kreist, mit einer munteren Kultur- und Studentenszene.
Bis zu dem Augenblick, als wir in der Touristeninformation im Rathaus stehen, hatte ich es nicht auf dem Schirm: In Lüneburg spielt der ARD-Dauerbrenner „Rote Rosen“. Zwischen Regalen mit Schafschlüsselanhängern, Salzsäckchen und Heidegeist belegen die Fan-Artikel eine ganze Abteilung. Das Sortiment umfasst Bettwäsche, Strandtaschen, Backhandschuhe, Nagelfeilen und vieles mehr mit roten Rosen. Es gibt Porträts der Protagonisten und einen Stadtplan, auf dem die Außendrehorte mit Röschen markiert sind. Man kann an Themenführungen auf den Spuren der Telenovela teilnehmen, mit dem TV-Kutscher Herrn Peters und seinen Pferden Hannes und Benjamin durch die Altstadt zuckeln oder Lüneburg mit Pauschalangeboten wie dem „Rote Rosen Spezial“ zwischen Fiktion und Realität erleben.
Ich habe schon lange keinen Fernseher mehr und kenne „Rote Rosen“ nur vom Hörensagen. Die Nachbereitung ergibt, dass ich mir eine gravierende Bildungslücke attestierten muss. Schließlich schreibt das Format seit der Erstausstrahlung am 6. November 2006 eine herausragende Erfolgsgeschichte in der deutschen TV-Landschaft. Auf die zunächst geplanten 100 Episoden folgte eine Verlängerung nach der anderen. Gerade wurde Folge 2381 gesendet, die Einschaltquoten liegen bei 1,6 Millionen – nahezu eine Verdopplung gegenüber den ersten Zahlen. Vor einigen Wochen haben die Dreharbeiten für die 14. Staffel begonnen. Wieder steht eine Frau Ende Vierzig im Zentrum, deren Leben eine schicksalhafte Wendung erfährt. Drumherum ein Geflecht aus Beziehungsgeschichten mit den bewährten Ingredienzien – Liebesglück und Liebesleid, Machtspiele und Intrigen, Streit und Versöhnung.
Und wieder stellt eine Kleinstadt in Niedersachsen die Kulisse für die emotionalen Achterbahnfahrten: Lüneburg. Viele Einwohner begrüßen das, weil der „Rote Rosen“-Hype kostenlose Werbung ist und die Wirtschaft beflügelt. Seit dem Start der Serie floriert der Tourismus wie nie. Um 42 Prozent auf 319.000 haben die Übernachtungszahlen in diesem Zeitraum zugelegt. Manchen Lüneburgern ist die Seifenoper hingegen ein Dorn im Auge, weil sie das Image ihrer Stadt ramponiert sehen oder sich über Straßensperrungen ärgern. Die Innenszenen werden zwar im Studio der Serienwerft draußen im Industriegebiet produziert, für die Außenaufnahmen rückt die „Rote Rosen“-Crew aber immer wieder auch zu Originalschauplätzen aus – zum Rathaus, in die historischen Gassen und zum Vier-Sterne-Hotel Bergström am alten Hafen, das in der Serie „Drei Könige“ heißt und als Fünf-Sterne-Haus geführt wird.



Jeweils montags bis freitags ab 14.10 Uhr berieselt die Daily Soap ihr Zielpublikum – weiblich und 50 plus – mit einem 50-minütigen Wohlfühlprogramm, das seinen Reiz gewissermaßen aus einem Paradoxon bezieht. Einerseits wird Lüneburg als ein kuscheliges Städtchen vorgeführt, in dem die Welt noch in Ordnung ist. Andererseits erscheint das Leben hier so viel dramatischer als das eigene. Auf dem Computer schaue ich mir eine Folge aus der ARD-Mediathek an, sie heißt „Magischer Kuss“. Die schnellen Parallelmontagen und die Vielzahl der Akteure wirken auf den Serienneuling recht unübersichtlich. Insgesamt wird viel geschluchzt („Und ich werde in deinen Augen die Schuldvorwürfe sehen“), getröstet („Die Pfannkuchen deiner Mutter haben dir immer geholfen, wenn es dir schlecht ging“) und moralisiert („Trotzdem hättest du wissen müssen, dass Beziehungen, die in den Flammen geboren werden, ganz schnell zu Asche werden“). Am Ende dann Vollzug des magischen Kusses als Cliffhanger für die nächste Folge „Trügerische Vertrautheit“.
In der Touristeninformation erkundigen wir uns nach dem schönsten Flanierviertel: Richtung Südwesten, empfiehlt die Mitarbeiterin von Lüneburg Marketing. Vorher lassen wir den Blick noch einmal über den Marktplatz schweifen – über das pompöse Rathaus mit seiner figurengeschmückten Barockfassade, den Luna-Brunnen mit der Jagdgöttin Diana, das Landgericht im ehemaligen Schloss der welfischen Herzöge und die schmucken Schnecken- und Staffelgiebel der Patrizierhäuser. Eines davon ist das Heinrich-Heine-Haus, in dem die Eltern des Poeten von 1822 bis 1826 lebten. Heine kam mehrfach in die Heidehauptstadt, die er als „Residenz der Langeweile“ bezeichnete. „Bildung ist hier gar keine, ich glaube, auf dem Rathaus steht ein Kulturableiter“, urteilte der Meister der Ironie.
Heute kann Lüneburg mit einer Kulturbäckerei, einem Kulturforum, einer Kulturhalle und acht Museen dagegenhalten. Auch rühmt sich die Hansestadt dafür, nach Madrid die höchste Kneipendichte Europas zu haben. Auf die 74.000 Einwohner – darunter 9.000 Studierende – kommen rund 400 Gaststätten. Und mit dem neuen Zentralgebäude der Leuphana-Universität hat Lüneburg einen Skandal fabriziert, dessen Dimensionen man eher nicht mit Provinz in Verbindung bringt. Als „Harvard in der Heide“ wurde das ambitionierte Projekt kritisiert, das seit den ersten Plänen vor zehn Jahren wegen Kostenexplosion und Korruption immer wieder Schlagzeilen schrieb. Zwischendurch stand sogar ein Baustopp zur Diskussion, nun ist das Prestigeobjekt nach den Entwürfen des amerikanischen Star-Architekten Daniel Libeskind aber doch eingeweiht worden. Ein erster Kosename für das Bauwerk aus Zink und Glas, das an eine Kreuzung aus Raumschiff und Bergkristall erinnert, ist schon im Umlauf: „Leuphi“ in Anlehnung an die Verniedlichung der Hamburger Elbphilharmonie als „Elphi“.
Wir biegen in die westliche Altstadt ein. Handwerker- und Kleinbürgerhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert bestimmen das Bild in den Gassen. Beinahe dörflich wirkt die Idylle aus Fachwerk, Backstein und Stockrosen, die gerade in voller Blüte stehen – zartgelb, rosa, pink und schwarzlila. Schaut man genauer hin, scheinen sich manche der Häuser nach vorne zu neigen. An anderen sieht man Risse oder schiefe Balken. Wir sind in dem Gebiet angekommen, in dem über Jahrhunderte hinweg Salz gewonnen wurde – jenes „weiße Gold“, das der Stadt einst zu Reichtum und zum Beitritt in die Hanse verhalf. Durch das Abpumpen der Sole sind Hohlräume entstanden, die von Grundwasserströmen ausgelaugt werden, so dass obere Erdschichten nachrutschen. Seit 1980 ist die Saline geschlossen, doch bis heute sind die Senkungen nicht zum Stillstand gekommen. Immer wieder müssen Häuser abgerissen oder mit viel Aufwand statisch gesichert werden.



Nach der Klosterkirche St. Michaelis am Johann-Sebastian-Bach-Platz – der Komponist erlangte an der Michaelisschule 1702 die Hochschulreife – orientieren wir uns wieder zum Zentrum. An diesem fantastischen Sommertag können wir uns weder für das Salzmuseum noch für das Brauereimuseum begeistern, das wir in der Heiligengeiststraße passieren. Dann erstreckt sich vor uns der 225 Meter lange und 40 Meter breite Platz „Am Sande“. Am unteren Ende ragt der 108 Meter hohe Turm der St. Johanniskirche auf, ein fünfschiffiges Prachtexemplar norddeutscher Backsteingotik. Die Stirnseite des ehemals sandigen, inzwischen kopfsteingepflasterten Areals nimmt ein Gebäude aus schwarz glasierten Backsteinen ein. Bis 1898 war es eine Brauerei, jetzt beherbergt es die Industrie- und Handelskammer.
An den Längsseiten treten reich verzierte Kaufmannshäuser zum Schönheitswettbewerb an. Wie sollte man da entscheiden – zwischen Schneckengiebeln und Stufengiebeln, die wie Treppen zum Himmel erscheinen, zwischen gekuppelten Blenden, gedoppelten Bogennischen und Friesen mit Zierstäben, die wie Schiffstaue gedreht sind, zwischen Rosetten, Rankenwerk und bunt angemalten Terrakottamedaillons? Im Mittelalter wurden auf dem Platz Salz, Bier, Korn und Holz umgeschlagen. Heute ist die kleinstadtklassische Ladenkollektion vertreten – Sparkasse, Eiscafés, Mc Donald’s, Einhorn-Apotheke, Ulla-Popken-Boutique mit Mode für Mollige. An diesem Nachmittag sieht man Studierende und ältere Semester beim Kaffeetrinken, Jugendliche beim Eisessen-Smartphone-Multitasking, Radtouristen beim Radler trinken, tütenschwenkende Frauen und Familien, die in Fahrradanhängern Kinder oder Einkäufe oder beides transportieren.


Durch die Große Bäckerstraße, in der die alte Ratsapotheke mit ihrem farbenprächtigen Renaissance-Portal ein besonderes Schmuckstück ist, gelangen wir in die Münzstraße und hinunter zum Wasserviertel um den alten Hafen. Südländisch sei das Flair hier, besagt der Reiseführer. An diesem Hochsommerabend ist das so. Bis auf den letzten Platz sind die Cafés und Kneipen am Stintmarkt besetzt. Von den Terrassen erblickt man am anderen Ufer der Ilmenau den alten Kran, mit dem früher Salz und Ostseeheringe verladen wurden. Geschnatter von Enten und Menschen vermischt sich mit dem Rauschen, das vom Wehr unter der Brausebrücke herüberdringt.
Die Brausebrücke ist ein häufiges Motiv in den „Rote Rosen“-Vorspännen, die alle 200 Folgen, wenn die Serienmacher eine andere Herzdame ins Spiel bringen, neu produziert werden. Um die Brücke gruppiert sich das Hotel Bergström, ein Gebäudeensemble aus alten Speichern, Wassermühle und Glasanbauten. Als Filmhotel „Drei Könige“ bildet es den Dreh- und Angelpunkt der Fließbandliebesgeschichten. Schon viele Darsteller hätten die Stadt ins Herz geschlossen und zur neuen Wahlheimat erklärt, heißt es von den Lüneburger Tourismuswerbern. Das kann man bestens nachvollziehen.



Fotos: pa
BACKSTEINGOTIK, WEISSES GOLD UND ROTE ROSEN
Informationen zum touristischen Angebot von Lüneburg finden sich unter https://www.lueneburg.info/.
Nach dem Lesen des Beitrags und dem Betrachten der Fotos kann ich Heinrich Heine nur zustimmen. Man muss diese Stadt nicht besucht haben! Viele Grüsse Der Gute Reisende
Wenn „man“ nicht auf norddeutsche Backsteingotik, kleine Studentenstädte und Gemütlichkeit steht, ist das sicherlich so.
Wies ausschaut ein romantisches Städtchen ganz nach meinem Geschmack (im Gegensatz zu der Serie) . Schöne Blumenbilder!!
Wir haben Lüneburg durchaus als „romantisch“ (im Sinne von verträumt) erlebt und tatsächlich keine – als solche erkennbaren – Rote-Rosen-Touristenhorden gesehen, von denen anderswo zu lesen ist.
Ein liebevoller Artikel über Lüneburg :-)
Merci!
Und für so nen Schund, die Seifenbrühe nicht der nette Bericht muss man sich als GEZ-Zahler quasi noch in Sippenhaft nehmen lassen.
Mir gefällt der Bericht und ich glaube, ich sollte mal hinfahren. Dankeschön