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Rauf auf den Sattel, runter vom Sattel


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Regenschauer, Rollatorstaus vor Ausflugsschiffen und Ausblicke auf Flussschleifen, burggekrönte Berge und Weingärten in abenteuerlichen Steillagen: Auf einer spätsommerlichen Fahrradtour entlang der Mosel braucht man nichts dringender als gute Bremsen. Denn immer wieder muss man wegen irgendetwas anhalten.

Kaum haben wir die Fahrräder in die Schutzhütte verfrachtet, da platzen die schiefergrauen Wolken, die der Wind schon seit einer Weile über die Steilhänge der Untermosel hetzt. Ein dichter Wasservorhang fällt vor das Panorama aus Fluss, Wald und Weinbergen. Nur verschwommen sind die Häuser von Ediger auf dem anderen Ufer zu erkennen. Mehr noch als die anderen Moseldörfer und Moselstädtchen, die wir bisher passiert haben, erscheint die regenverschleierte Winzergemeinde wie eine Modelleisenbahnlandschaft. Zu idealtypisch präsentiert sich das Arrangement aus Fachwerkbauten und Kirche umkränzt von Reben, als dass man es in der Wirklichkeit verorten würde.

Längst ist uns klar, warum der 275 Kilometer lange Moselradweg vom französischen Thionville bis zum Deutschen Eck in Koblenz zu den beliebtesten Radfernwegen Deutschlands zählt. Die Strecke, die auch als „Königin der Premiumradrouten“ im Moselland beworben wird, ist gespickt mit Bilderbuchortschaften, die wiederum gespickt sind mit Gasthöfen, Gutsschänken und Cafés. Drumherum in dem „natürlichen Amphitheater“, wie der römische Dichter Ausonius „Mosella“ einst besang, läuft ein Naturschauspiel, das sich grob in drei Bühnenbilder unterteilen lässt: die Wiesentäler und bewaldeten Hügel der Obermosel, die rebenüberspannten und burgbewehrten Bergflanken der kurvigen Mittelmosel und die Schluchten der Terrassenmosel mit noch vertikaleren Weinlagen. Obendrein ist das ganze Vergnügen fast ohne schweißtreibende Steigungen zu haben – zumindest dann, wenn man flussabwärts fährt und dem grünweißen Emblem des Moselradwegs folgt, das sich aus einem wie Flussschleifen geschwungenem „M“ und einem Fahrrad zusammensetzt. Ergänzt um Schilder mit Orts- und Entfernungsangaben ergibt sich ein geradezu idiotensicheres Leitsystem.

Es grenzt schon an ein Kunststück, sich auf dem Moselradweg zu verfahren.

Dass wir abseits der Route in dieser Steinhütte gelandet sind, hängt mit einem absichtlichen Schlenker zusammen. Meistens führt der Moselradweg über Straßen, die vom Autoverkehr getrennt sind, manchmal aber auch nicht. Da hatten wir gedacht, ein Wechsel auf das andere Ufer wäre vorteilhaft. Dutzende von Brücken und einige Fähren eröffnen an der Mosel viel Spielraum bei der Wahl, ob man lieber auf der Eifel- oder der Hunsrückseite fahren will. Doch nun müssen wir mit ansehen, wie sich der Waldweg in eine Rutschbahn verwandelt. Der Plattenvermeidungsslalom um die Schiefersteine, die teils wie Keile aus dem Boden ragen, wird sich noch kurzweiliger gestalten. Wie gerne wären wir jetzt mit Mountainbikes unterwegs und nicht mit packtaschenbeschwerten Allroundrädern. Bis zu unserem nächsten Etappenziel, dem Weinort Ernst bei Cochem, sind es noch rund 18 Kilometer. Keine große Sache an und für sich, wären die Steine, der Schlamm und der Regen nicht.

Auf dem Moselradweg gewinnt man sehr bald die Erkenntnis: Es geht nicht so schnell voran wie gedacht. Nicht einmal annähernd. Die Pausen, die das schlechte Spätsommerwetter immer wieder erforderlich macht, sind damit noch gar nicht gemeint. Die Rede ist von diversen anderen Gründen, die uns zum Anhalten veranlassen: verstopfte Straßen, denn im September sind die Weinfeste ein zusätzlicher Touristenmagnet; Rastplätze zwischen Fluss und Rebenreihen mit prallen Trauben; Straußwirtschaften, Konditoreien und allerhand Hinweise auf Sehenswürdigkeiten; und ständig ein Moselmotiv, das es unbedingt zu fotografieren gilt. Bei dem Stop-and-go erweist es sich als goldrichtig, dass ich vor der Abfahrt noch in neue Bremsbeläge investiert habe. Zum Glück haben wir uns dazu entschieden, von West nach Ost zu fahren und nicht in umgekehrter Richtung. Erstens profitieren wir öfter von Rückenwind, zweitens geht es leicht bergab, und drittens fühlt es sich auch harmonischer an, mit dem Fluss zu radeln und nicht gegen den Strom.

Die Problematik mit dem Zeitmanagement hatte sich schon am Startpunkt unserer Tour in Trier angekündigt. In der einstigen Kaiserresidenz Augusta Treverorum kann man allein auf der „Römerroute“ einen Tag zubringen – Porta Nigra, Konstantinbasilika, Kaiserthermen, Barbarathermen, Amphitheater, Römerbrücke, allesamt Unesco-Weltkulturerbe. Und dann hat man noch nicht den Dom gesehen, nicht das Karl-Marx-Haus und nicht das Rheinische Landesmuseum. Wir haben für unsere Fahrradtour durchs Moseltal nur dreieinhalb Tage eingeplant, da müssen wir Kompromisse machen. Ich hätte es ahnen können, schließlich habe ich einige Jahre in einem Vorort von Trier gewohnt. Als Pferdemädchen drehte sich meine Welt zu jener Zeit allerdings mehr um ausgedehnte Reitausflüge im Hunsrück als um römische Relikte.

Dass der Fremdenverkehr in der Moselregion vorzüglich auf die Zielgruppe der Radfahrer eingestellt ist, zeigt uns bereits die Fahrradgarage mit 400 Stellplätzen gleich neben der Porta Nigra. Für zwei Euro pro Tag kann man hier sein Rad samt Gepäck sicher und trocken parken. Nach einem Rundgang im Sauseschritt – Stadttor, Hauptmarkt mit dem Petrusbrunnen, romanisch-frühgotische Doppelkirche Dom-Liebfrauen, Basilika, Kurfürstliches Palais mit einer zum Anbeißen schönen Rokokofassade in Rosaweiß, Kaiserthermen, Judengasse, Stadttor – verlassen wir das so genannte „Zentrum der Antike“ am frühen Abend über die Kaiser-Wilhelm-Brücke. Beim Durchqueren des Industriegebiets und des Hafengeländes von Trier wollen noch keine romantischen Anwandlungen aufkommen. Doch dann, nachdem wir auf die andere Flussseite gewechselt sind und auch die A1-Autobahnbrücke hinter uns liegt, geht es los mit dem, was die Menschen seit jeher an der Mosel fasziniert: mit den märchenhaft modellierten Mäandern, die sich das Gewässer dort durch das Rheinische Schiefergebirge gebahnt hat, wo nach dem jahrmillionenlangen Wechselspiel aus Abtragungen und Ablagerungen, Verwerfungen und Verschiebungen, Hitze- und Kälteperioden das am wenigsten harte Sedimentgestein entstanden war.

Wahrzeichen von Trier: die Porta Nigra, das am besten erhaltene Stadttor nördlich der Alpen
Das Mittelschiff des Doms aus der Altarperspektive
Die Rückseite der Doppelkirche Dom-Liebfrauen
Schon auf dem Hauptmarkt von Trier lockt der Rebensaft.

Auf den nächsten Kilometern stören kaum Zeichen der Zivilisation die Aussicht auf den Wasserlauf. Glatt wie ein See bettet sich die Mosel zwischen waldgesäumte Weingärten und spiegelt alles so deutlich wider, dass es scheint, als seien die „Fluten mit Reben bewachsen“, um es mit den Worten von Ausonius zu sagen. Erst bei Riol schiebt sich wieder ein Stück Autobrücke in den Hintergrund. Am Fluss thront auf einem Sockel eine Franziskusstatue mit Kreuz in der Hand und Weltkugel unter der Sandale. Schiffer aus Trier haben die Sandsteinfigur 1802 aus einem Kloster vor französischen Revolutionstruppen gerettet und hier postiert. Seitdem achtet der mittlerweile moosbärtige Heilige darauf, dass an der Stelle, die wegen ihrer Untiefen stets gefürchtet war, niemand verunglückt. Der Radweg ist auf diesem Abschnitt umso ungefährlicher. Über glattes Asphaltband gleiten wir dahin und erreichen in der Dämmerung unser erstes Zwischenziel Mehring. Laut Health-App haben wir 28 Kilometer zurückgelegt – genau die richtige Dosis für den Auftakt.

Wie wir von den Mehringern erfahren, befinden wir uns im Heimatort der noch bis Oktober amtierenden 68. Deutschen Weinkönigin Lena Endesfelder. Sie führt das Familienweingut mit ihrer Mutter und Schwester – eine eher ungewöhnliche Konstellation in einer Branche, in der Männer in der Mehrzahl sind. In einer Broschüre der Mosellandtouristik GmbH entdecken wir ein Interview mit der Jungwinzerin. Auf die Frage, ob es Frauen in dem Beruf schwerer haben, antwortet sie: „Sicherlich stoßen wir hier und da eher an unsere körperlichen Grenzen, aber heutzutage gibt es sehr viel Technik, und ein kluger Kopf bringt einen auch oft weiter als starke Oberarme.“ Unser Eindruck ist, dass man für die Arbeit in dem größten Steillagenweinbaugebiet der Welt vor allem schwindelfrei sein und über die Trittsicherheit einer Bergziege verfügen sollte. Beim Blick hinauf kann einem ganz duselig werden, selbst wenn man noch nicht vom Rebensaft gekostet hat. Manche Weinstöcke sehen so aus, als würden sie jeden Moment vorne überkippen und in den Fluss kullern. Doch eben die Bedingungen sind es, die besonders feine Tropfen hervorbringen. Nach Ansicht des Weinpapstes Hugh Johnson gedeiht in der Gegend der facettenreichste Riesling der Welt. Schon die Römer erkannten, dass die Kombination aus sonnenverwöhnten Tälern, Schieferboden und tiefen Wasseradern für den Anbau der edlen Rebsorte optimal sein würde.

Als seien die „Fluten mit Reben bewachsen“: Spiegelungen in der Mosel
Mittlerweile moosbärtig passt die Franziskusfigur bei Riol auf die Schiffer auf.
In der Dämmerung erreichen wir das erste Etappenziel Mehring.

Am nächsten Morgen ist von Sonnenschein keine Spur. Mehring liegt im Grau. Für die nächsten Tage sieht es noch düsterer aus: Regenwahrscheinlichkeit bis zu 75 Prozent. Schon früh satteln wir unsere Drahtesel, um etwas Strecke zu schaffen, bevor die anderen Freizeitradler aus den Federn kriechen. Tatsächlich haben wir den Radweg für uns, bis wir hinter einer Trauerweide eine Vollbremsung vollführen müssen, weil Schwäne mitten auf der Fahrbahn ins Gefiederputzen vertieft sind. Im Winzerdorf Detzem schließt eine Männergruppe zu uns auf, die sich mit Popmusik zum Tritt in die Pedale motiviert. Schneller strampeln oder zurückfallen lassen? Auf jeden Fall irgendwie Abstand gewinnen, um die Morgenstille wieder herzustellen. Lieber langsamer radeln und genießen. Immerhin nähern wir uns Leiwen mit der Zummethöhe, die das Deutsche Weininstitut zu den „Schönsten Weinsichten 2016“ gekürt hat. Die Mosel dreht hier eine besonders anmutige Schleife.

In Neumagen stoppen wir an der Peterskapelle. Hier zeugt ein steinernes Weinschiff vom Handel der Römer an der Via Ausonia. Das Original des Grabdenkmals, das man als Teil einer Kastellanlage gefunden hat, ist im Landesmuseum in Trier verwahrt. Gegenüber von der drachenkopfgeschmückten Galeere gelegen, von der wir gleich noch einen hölzernen Nachbau auf der Mosel sichten werden, lockt das „Café am Römerweinschiff“ mit Rieslingsekttrüffeln, Himbeerkuchen und Buttercremetorten. Für Ausdauersportler gilt zwar die Faustregel: Trinken, bevor der Durst kommt, und essen, bevor der Magen knurrt, damit sich kein Hungerast einstellt – also jener Zustand, der die Beine von einer Sekunde auf die nächste in Gummi verwandelt. Wir beschränken uns trotzdem auf einen Augenschmaus. Der angeblich „älteste Weinort Deutschlands“ sieht mit seinen Natursteinhäusern ganz entzückend aus.

 

Bei Mehring am Morgen: Die Schwäne sind schon aktiv, die meisten Radtouristen noch nicht.
In Neumagen steht eine Römerweinschiffreplik aus Stein, …
… auf der Mosel schwimmt eine aus Holz.

Gegen Mittag belebt sich der Moselradweg. E-Biker kommen uns entspannt entgegen, Rennradfahrer zischen als Neonschweif vorüber. Dann verrät uns Popmusik, dass die Männergruppe erneut hinter uns angedockt ist. Sie hat wohl irgendwo eine Pause eingelegt. Die machen jetzt auch wir. Beim Picknick schauen wir auf die Mosel, die bei wärmeren Temperaturen zum Baden verführen würde. Die Wasserqualität könnte man nicht besser beschreiben als Ausonius: „Durch den geglätteten Spiegel erscheint durchsichtig die Tiefe, dass du, o Fluss, nichts Heimliches birgst.“

Gestärkt radeln wir weiter nach Bernkastel-Kues. Das Städtchen erinnert mit seinen kopfsteingepflasterten Gassen voller krummer Fachwerkhäuser, Butzenscheibenweinstuben, Schnörkelschilder und Weinrankengirlanden an Gebrüder-Grimm-Geschichten, weswegen es folgerichtig auch ein „Märchenhotel“ gibt. Unter Spitzgiebeln prangen Sinnsprüche in Frakturschrift, darunter jener Paarreim von Goethe: „Trunken müssen wir alle sein! Jugend ist wie Trunkenheit ohne Wein; trinkt sich das Alter wieder zur Jugend, so ist es wundervolle Tugend. Für Sorgen sorgt das liebe Leben, und Sorgenbrecher sind die Reben.“ In unserer Urlaubslaune können wir uns mit dem Appell weniger identifizieren. Und schließlich sind wir auch mit Muskelkraft an der Mosel unterwegs und nicht mit dem „Saufbähnchen“ wie dereinst Kurt Tucholsky, Karlchen und Jakopp. Die Freunde soffen sich 1929 mit dem legendären Bummelzug zwischen Trier und Bullay „langsam den Fluss hinab“. Tucholsky notierte: „Auf jeder dritten Station stiegen wir aus und sahen nach, wie es mit dem Weine wäre. Es war. Wenn wir das festgestellt hatten, stiegen wir wieder ein.“ Uns steht der Sinn angesichts des heutigen Pensums von 70 Kilometern mehr nach Abstinenz.

Ganz Gegenwart sind in Bernkastel-Kues die Touristenscharen, die sich im „Currywurst-Treff“ verköstigen, Nippes bei „Nepal Art“ shoppen und für Selfies auf dem ausnehmend fotogenen Marktplatz posieren. Wir kehren dem Rummel den Rücken zu und setzen unsere Fahrt auf der linken Flussseite fort. Bei Wehlen lassen wir uns von Nieselregen gerne zur Einkehr ins „Riesling-Café“ an der Uferallee nötigen. Das von dem Weingut Kerpen mit großer Gastfreundlichkeit betriebene Lokal stellt uns vor die Wahl: Bienenstich, Reiskuchen mit Roter Grütze oder Apfelrieslingkuchen mit Zimtsahne? Unter dem Magnolienbaum im Garten finden wir ein trockenes Plätzchen. Von einem Ausflugsschiff dringt Schlagermusik herüber, von den Nachbartischen, an denen Gäste vor Weinproben sitzen, Fachgesimpel. Auf der Weinkarte steht neben Rieslingen aus Lagen wie Bernkasteler Bratenhöfchen, Graacher Himmelreich und Wehlener Sonnenuhr schon wieder ein Zitat, das zum Zechen anstiftet. Diesmal ist es Wilhelm Busch: „Man trinkt ganz gerne dann und wann, soviel man eben trinken kann.“

Um sich das, was wir einige Kilometer weiter erblicken, irgendwie schönzutrinken, bräuchte es jedenfalls mehr als ein Glas. Vor uns streben gewaltige Betonpfeiler himmelwärts. Es ist Europas größtes Brückenbauprojekt, die Hochmoselbrücke, auf der die Bundesstraße B50 irgendwann einmal das Tal zwischen Zeltingen-Rachting und Ürzig überqueren soll. Das 1,7 Kilometer lange und 158 Meter hohe Monstrum steht nicht nur in puncto Landschaftsverschandelung in der Kritik. Winzer beklagen, dass das Bauwerk auch wertvolle Weinlagen gefährde. Zwei Flussschlingen später taucht unser Tagesziel auf: Traben-Trarbach. Dass die Ortschaft um 1900 durch die angesagten Rieslingweine zum größten Weinumschlagplatz Europas hinter Bordeaux avancierte und diese Ära nicht nur eine Fülle von Jugendstilhäusern hinterlassen hat, sondern auch eine Unterwelt mit mehr als 100 Meter langen Kellergewölben, dafür haben wir keine Sensoren mehr. Wir schaffen es nur noch schnell zur Nahrungsaufnahme beim Italiener.

Zwischen Weinreben und Fluss lässt es sich fabelhaft picknicken.
Fahrradfreundliche Gastbetriebe gibt es am Moselradweg en masse.
Die Altstadt von Bernkastel-Kues mit dem Marktplatz und …
… verwinkelten Gassen
Am Ufer warten Karawanen von Ausflugsschiffen.
Monsterbaustelle: die Hochmoselbrücke zwischen Zeltingen-Rachtig und Ürzig

Am nächsten Vormittag starten wir in der ersten Regenpause gleich voll durch und lassen auch das Traben-Trarbacher Buddha-Museum unbesichtigt zurück, das ein IT-Unternehmer in einem schlossartigen Jugendstilgebäude eingerichtet hat. Bleigrau wabert die Mosel durch die blassgrünen Schrägen. Gegen Mittag soll das Wetter richtig ungemütlich werden. In Zell zwingen uns schlappe Schläuche zu einem Boxenstopp an einem Fahrradladen. Das Städtchen hat sein Marketing auf eine Legende um eine schwarze Katze konzentriert, die uns von Weinfässern, Brunnen, Schildern und Souvenirs anfaucht. Hinter Neef legt sich die Mosel in eine Haarnadelkurve. Links steigt der Calmont auf, einer der steilsten Weinberge der Welt. Calidus mons nannten die Römer den Höhenzug, warmer Berg. Wir frösteln kurz darauf bei 14 Grad in der Schutzhütte gegenüber von Ediger-Eller. Die Wetter-App prophezeit: Noch 20 Minuten Wolkenbruch, dann können wir die Weiterfahrt wagen. Und wirklich, der Himmel reißt auf.

Doch bereits in Briedern ereilt uns der nächste Schauer. Im „Café Klering“ harren wir bei Cappuccino und Winzertorte gefüllt mit Weinmarzipancreme aus. Nach der Health-App haben wir heute schon fast 1.000 Kilokalorien zusätzlich verbraucht – das entspricht gleich mehreren Kuchenstücken. Alternativ könnten wir unseren erhöhten Energiebedarf immerzu auch in flüssiger Form decken. Alle paar Kilometer leuchtet uns ein anderer Lagenname aus den Hängen entgegen, einer bildhafter als der andere. In weißen Lettern steht dort geschrieben: Piesporter Goldtröpfchen, Erdener Treppchen, Kröver Nacktarsch, Briedeler Herzchen …

Nach dem Regen glänzen unsere Stahlrösser wie frisch gestriegelt und die schlammbespritzten Satteltaschen wie neu. Als wir uns Beilstein mit der Burg Metternich nähern, öffnet der Himmel erneut seine Schleusen. Gerade noch können wir uns unters Dach einer Gaststätte retten. Sollte jetzt jemand denken, wir wären aus Zucker oder hätten keine Regenkleidung: Nichts davon ist der Fall. Aber mit Plastikpelle und getrübtem Panoramablick macht alles weniger Spaß. Als wir uns wieder auf die Sättel schwingen, legt die „Moselprinzessin“ an und setzt eine Seniorengruppe ab. Auf den Wegen bilden sich Rollatorstaus. Am Ortsausgang warten Buskolonnen, um die Besucher nach der Besichtigung von Beilstein, das wegen seiner postkartenperfekten Erscheinung auch den Spitznamen „Dornröschen der Mosel“ trägt, zum nächsten Hotspot zu transportieren.

Der ist mit Cochem nicht fern. Unser Herbergsvater in Mehring hatte über die Stadt gesagt: „Da fährt man schnell durch und kurbelt die Scheiben hoch.“ Abgesehen davon, dass unsere Fahrzeuge nicht über diese Abschottungsvorrichtung verfügen, wollen wir uns auch selbst ein Bild machen. Aus der Ferne mutet alles ganz pittoresk an – Reichsburg, Bogenbrücke, farbenfrohe Fassaden. Beim Näherkommen entpuppen sich die Gassen als ein Spalier aus flairfreien Schnitzelhäusern, Souvenirplunderläden und Spelunken, aus denen Schlager schallen. Vor dem wieder einsetzenden Regen flüchten wir neben dem Enderttor in die „Alte Thorschenke“, eines der ältesten Weinhäuser Deutschlands von 1332, dunkle Deckenbalken, Blümchentapete, Kurfürstengemälde. In dieser urdeutschen Gemütlichkeit lassen wir uns auf eine Eckbank fallen und bestellen einen Riesling. Die Health-App gibt an: 56 Kilometer. Unser Gefühl meint: 80 Kilometer. Traumlos schlummern wir in unserer Unterkunft im Nachbarort Ernst.

Blick aus der Schutzhütte: Der Himmel reißt auf, die Fahrt kann weitergehen.
In weißen Lettern leuchten die Namen der Lagen von den Hängen.
Kleine Entschädigung am Ende eines Regentages: Regenbogen über der Kirche von Ernst
Cochem mit der Reichsburg von Ferne und …
… von der Promenade

Anderntags müssen wir wegen einer Straßensperrung hinter Cochem auf die rechte Moselseite wechseln und bei Klotten mit der Fähre wieder aufs andere Ufer übersetzen. In Moselkern gäbe es die Gelegenheit zu einem sportlichen Abstecher hinauf zur Burg Eltz. Als wir unschlüssig in die Gegend schauen, spricht uns ein Mann an, ob er uns eine Auskunft geben kann. Es ist wie in den Vortagen: Die Leute fragen uns, ob sie uns helfen können, nicht wir sie. Beste Routen, beste Rastplätze, umgestürzte Bäume auf dem Radweg – die Moselaner sind sehr ratgeberfreudige Menschen. Zwei bis drei Stunden müssten wir für den Ausflug zur Märchenburg rechnen. Das überschreitet unser Zeitbudget, auch wenn wir heute mit starkem Rückenwind von einem Ort zum anderen fliegen als hätten sich unsere pedalbetriebenen Packesel über Nacht in Pegasusse verwandelt. Hinter Hatzenport müssen wir sie zügeln: Fotostopp. Über Alken thront die Burg Thurant, eine Spornburg mit zwei Bergfrieden, die den Erzbistümern von Köln und Trier eine Zeit lang gemeinsam gehörte.

Sieben Kilometer weiter trumpft die Doppelgemeinde Kobern-Gondorf mit vier Burgen und Schlössern auf: der Oberburg, der Niederburg, dem Schloss Liebieg und dem Schloss Gondorf des Adelsgeschlechts von der Leyen. Auf dem Platz vor der neogotischen Anlage ist an diesem Wochenende Weinkirmes. Zwischen den Festzelten sind auch die spätburgundervioletten Kleider der Gondorfer Weinkönigin Julia und ihrer Entourage auszumachen. Wir verzichten auf ein Gläschen mit den volksnahen Majestäten, denn unsere Stahlrösser scharren mit den Hufen. Vielleicht macht sie die Schlagermusik nervös, vielleicht wittern sie aber auch, dass sie schon bald in den heimischen Stall dürfen.

In Winningen pausieren wir bei Sonnenschein im „Café Sander“ an der Fährstraße. Die Theke ist gefüllt mit Sahnigem und Cremigem. Nein, es ist wirklich überhaupt kein Problem, sich auf dem Moselradweg mit den notwendigen Kalorien zu versorgen. Für den Notfall haben wir Müsliriegel mitgenommen. Besser, wir hätten mehr Zeit eingepackt. Nach einer Strecke mit Steillagen-Fluss-Ausblicken, die sich nur mit dem Panorama-Modus der Kamera einfangen lassen, geraten wir vor dem Koblenzer Stadtteil Güls auf eine Schlaglochpiste – nicht gerade das Terrain, das zum Endspurt animiert. „Han die in Koblenz koi Geld, da bissle Asphalt druff zu dun“, fragt ein Radtourist aus dem süddeutschen Sprachraum und zieht auf seinem Mountainbike an uns vorbei. Insgesamt wollen wir uns über den Zustand des Moselradwegs nicht beklagen. Bis auf einen Abschnitt irgendwo zwischen Pünderich und Neef, wo uns Baumwurzelhubbel aus dem Sattel hoben, dass ich mich schon einen Purzelbaum in den Fluss schlagen sah, war alles tadellos.

Bei Klotten setzen wir mit der Fähre über.
Fotostopp muss sein: die Burg Thurant über Alken
Bei Winningen bieten sich noch einmal königliche Ausblicke auf …
… den Fluss und …
… auf Steillagen.

Und dann sind wir am Ziel, dem Deutschen Eck. Uns ist ganz feierlich zumute – irgendwie so, als sollten wir eine Fahne in den Boden rammen. Doch an der Landzunge weht längst eine, und zwar eine richtig große, das Schwarzrotgelb ist etwas ausgeblichen. Auch alles andere am Deutschen Eck ist groß: das Kaiser-Wilhelm-Reiterstandbild, das auf Tucholsky wie ein „Faustschlag aus Stein“ wirkte, und die Festung Ehrenbreitstein auf der anderen Seite am Zusammenfluss von Mosel und Rhein.

Von der Quelle in den Vogesen bis hierher hat die Mosel 544 Kilometer zurückgelegt – mit Schwüngen und Schleifen, Buchten und Biegungen, die sie wie die Bauchtänzerin unter Deutschlands Flüssen erscheinen lassen. Wir kommen laut Health-App auf 220 Kilometer. Unsere Höchstgeschwindigkeit belief sich auf 36 Stundenkilometer, das muss bei irgendeiner Brückenabfahrt gewesen sein. Die Durchschnittsgeschwindigkeit betrug angeberuntaugliche 17 Stundenkilometer. Schneller als die Mosel waren wir damit allemal. Deren Fließgeschwindigkeit liegt bei normalem Wasserstand bei drei bis fünf Kilometern pro Stunde. Beim nächsten Mal würden wir mehr zu diesem Tempo tendieren, um alles noch besser genießen zu können.

Die Fahne steckt schon: das Deutsche Eck in Koblenz
Fotos: pa, ef (1)

UNTERWEGS AUF DEM MOSELRADWEG
Tipps für die Tourenplanung sind unter www.radwanderland.de, www.moselland-radtouren.de und www.moseltourenplaner.de zu finden.
Fahrradfreundliche Gastbetriebe bündelt die Website www.bettundbike.de des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs.
Manche Orte am Moselradweg bieten Abstellmöglichkeiten für Fahrrad und Gepäck. In Trier gibt es eine Fahrradgarage neben der Porta Nigra, in Bernkastel-Kues einen Fahrradkeller im Mosel-Gäste-Zentrum.
Die Fahrradmitnahme ist in den rheinland-pfälzischen Nahverkehrszügen an Feiertagen und am Wochenende kostenlos, an Werktagen ab 9 Uhr ebenso. Auskünfte zu den Verbindungen unter www.der-takt.de. Von April bis November verkehrt zwischen Trier und Bullay außerdem der „RegioRadler Moseltal“ (Linie 333), ein Bus mit Fahrradanhänger. Fahrtzeiten und Reservierung unter www.regioradler.de. Auch die Moselschiffe befördern Fahrräder. Infos zu Preisen und Verbindungen unter http://www.mosel-personenschifffahrt.de/.
Allgemeine Infos zur Region bietet Mosellandtouristik unter www.mosellandtouristik.de.

9 Comments

  • Ein wunderbarer Bericht, der Lust auf ein „Nachradeln“ macht. Evtl. empfiehlt sich vllt. eine andere Jahreszeit?

  • Kann mich nur anschliessen, super toller Beitrag v.a. auch mit den Zitaten!! Nächsten frühsommer probiere ich die strecke mal aus,jetzt ist mir das Wetter zu schmuddelig.

  • Wie immer: Die Bilder sind so gut gemacht, dass man geneigt ist, sich gleich den Text zu schenken.
    Zum Thema: Weinberge wirkten auf mich schon als Kind immer ein klein wenig langweilig. Hübsch sind sie, wenn sie sich mit genügend anderer Vegetation und ansprechender Architektur mischen. – Dass Historismus nicht blöd sein muss, zeigt die Kirche von Ernst. Ausdrucksstarke, wenn auch in der Ausführung kunsthistorisch diskutierbare Neoromanik!

    Schön übrigens, dass Sie auch mal in diesem denkwürdigen Land unterwegs sind, wo das Sozialsystem derzeit noch regelmäßig komfortabler scheint als das Wetter.

    Vermute, irgendwann gönn ich mir in diesem Leben noch mal das kleine bescheidene Glück solch einer Radtour. Die Weinfeste darf ich mir sparen. Ich mutmaße da eine mir zu schunkelige Laune. Außerdem ist man heute ja schon seinen Lappen los, wenn man beschwippst auf dem Drahtesel balanciert.

    • Womöglich haben Sie genau das getan: sich den Text geschenkt. Andernfalls hätten sich Ihre Annahmen wahrscheinlich erübrigt. Weinberge können langweilig erscheinen – auf die geschilderte Strecke trifft vielmehr das Gegenteil zu: Die Flussschwünge kontrastieren die Geometrie der Rebenreihen aufs Wundervollste. „Architektur“ gibt es obendrein alle paar Kilometer. Ob diese „ansprechend“ ist, liegt freilich im Auge des Betrachters.

      Für die Weinfeste sollte man meiner Erfahrung nach insbesondere eine Vorliebe für das Musikgenre des Schlagers mitbringen. Der angeführten Problematik – von wegen beschwipst auf dem Drahtesel balancieren – beugen die Tourismusanbieter übrigens teilweise schon vor. In Ernst beispielsweise war im Übernachtungspreis eine „Gästekarte“ inkludiert, mit der man umsonst mit dem öffentlichen Nahverkehr pendeln konnte.

      An dieser Stelle vielleicht noch erwähnenswert: Wenn man ein wenig sucht, kann man für eine derart stark frequentierte Region erstaunlich günstige Unterkünfte finden. Und wenn es einem nichts ausmacht, auch Camping-Equipment zu transportieren – Zeltplätze sind zahlreich vorhanden (http://www.mosel-reisefuehrer.de/campingplaetze). Das „kleine bescheidene Glück“ muss also nicht viel kosten.

  • Oh, bitte nicht missverstehen. Ich wollte den Text nicht mindern. Doch als cis male (Die ältere Generation sagt noch einfach Mann, Studierende sprechen heute von Männenden) ist man genetisch eher auf Optik getrimmt. Beim Musikgenre des Schlagers würde ich allenfalls die 70-er durchstehen – doch auch nur deshalb, weil die historische Distanz dem Ganzen eine akustische Patina verleiht. Ich danke da für Ihren freundlichen Hinweis und werde das weiterhin meiden, da ich das Thema Wein doch eher mit dem Raffinierten, bisweilen Brüskierenden oder Erstaunlichen verbunden finden möchte, weniger mit beschwippsten Schweißausdünstungen distanzloser Unbekannter beliebigen Geschlechts. Da mag der Riesling noch so sübbelig sein. Am nächsten Tag: sowieso nen dicken Kopp wegen der Panscherei.

    Für mich persönlich wären die vorhandenen Burgen (bzw. das, was davon nach den Franzosen übrig blieb oder im 19. Jahrhundert zurückphantasiert wurde) das Anziehendste an einer solchen Tour.

    Vielleicht wäre es beim Umfeld Fahrradtour noch interessant, auf „eingeschränkte Zielgruppen“ einzugehen, Stichworte: Radtour mit Kind oder Hund (Streckeneignung nach Steigungen, wg. Fahrradhänger). Strecken durchs Flachland sind da komfortabel zu fahren, leider aber fürs erwachsene Auge auch so langweilig wie der Blick übers platte Meer zur Horizontlinie. Hügel und Berge geben der Sache nun mal die Beschwingtheit.

    Wenn Sie mal eine Ahrtour machen, wäre es schön, davon einen Fotobericht zu lesen bzw. zu gucken ;-)
    Was mich auch noch interessieren würde, wäre eine Draisinen-Tour auf ausrangierter Bahnstrecke. Da sind ja nicht überall die alten Schienen abmontiert und als Schmelzstahl nach China verkauft worden.

    • Zum Streckenprofil finden Sie im Bericht bereits mehrere Hinweise. Der Moselradweg ist größtenteils flach. Ausnahmen bilden die Auf- und Abfahrten an den Brücken und einige wenige Schlenker hinauf in die Weinberge. Weitere Infos finden Sie unter http://mosel-radweg-etappen.com/hoehenprofil/.

      Die Einschätzung, ob die Route für „eingeschränkte Zielgruppen“ geeignet ist, möchte ich lieber Experten überlassen, die über die besonderen Bedürfnisse im Bilde sind. Radeln mit Hund beispielsweise scheint aber gut möglich zu sein (https://isidogblog.com/radwandern-an-der-mosel/ und https://dogsammy.de/urlaub-mit-hund-mosel/), selbst wenn der vierbeinige Reisegefährte nicht in einem Fahrradanhänger transportiert wird, sondern seitlich an der Leine mitläuft. Generell wünschenswert wäre aus meiner Sicht, dass nur dickere Leinen verwendet werden und nicht diese Schnipperstrippen, die man als Radfahrer oft erst in letzter Sekunde wahrnimmt. Insbesondere dann, wenn sich der Strippenhalter auf der einen Seite des Weges befindet und das Geschöpf am Ende der Strippe gegenüber im Gebüsch, kann das für den Radfahrer zu Verhedderungen bis hin zu Stürzen führen.

      Ja, eine Draisinentour hatte ich auch schon mal in Erwägung gezogen. Vielleicht sollte ich den Gedanken weiter verfolgen. Vielen Dank für den Impuls.

  • Danke für den informativen, poetischen und lustigen Report. Meisterhaft geschrieben.

  • Haha … bin auch schon in Hundeleinen hängen geblieben. Ist aber nix passiert.

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