Die Ockerfelsen im südfranzösischen Naturpark Lubéron werden auch als „Colorado Provençal“ vermarktet. Doch anders als in dem US-Bundesstaat sind die Gebilde kein Wunderwerk von Naturgewalten, sondern eine durch Ockerabbau von Menschenhand modellierte Kulturlandschaft.
Von Ferne sieht es aus, als hätten Riesenraubkatzen gewaltige Stücke aus der Landschaft gerissen. Wie Fleischwunden leuchten die blutroten Ockerfelsen aus dem buschigen Grün im Naturpark Lubéron südlich des Mont Ventoux. In Wirklichkeit waren bei den Gesteinsformationen jedoch weder wilde Tiere noch Naturgewalten am Werk, sondern Scharen von Bergarbeitern mit Sprengstoff und Spitzhacke, um der Natur das rote Gold der Provence zu entreißen. Wir nähern uns Roussillon, einem 1.300-Seelen-Dorf, das einmal Hochburg der Ockerproduktion in Europa war und sich wegen seines historischen Erbes mit dem Label Les plus beaux villages de France schmücken darf. Die kulturtouristische Auszeichnung soll bauliche Verunstaltungen verhindern und den Fremdenverkehr fördern.
In Roussillon scheint die Strategie vorzüglich aufzugehen. Mehr als 120.000 Touristen besuchen jährlich die zwischen Wäldern und Weinbergen auf einer Klippe thronende Ortschaft. Auf dem Parkplatz am unteren Dorfrand ist an diesem frühen Hochsommerabend nur noch eine letzte Lücke vorhanden. Beim Streifzug durch die Gassen kann man nirgends Bausünden entdecken und überall schmeicheln Häuserfassaden in allen erdenklichen Ockertönen dem Auge: Goldgelb, Sandbeige, Ackerbraun, Blutorange, Bordeauxrot. Unterhalb der Kirche Saint-Michel öffnet sich der Blick auf die Ockersteinbrüche, die im Licht der Abendsonne wie Flammensäulen glühen.
Schon die Höhlenmaler der eurasischen Altsteinzeit hatten Ocker in ihrer Palette. Ein berühmtes Zeugnis dieser frühen Kunst ist die bei Montignac in der Dordogne gelegene Höhle von Lascaux, deren komplette Kopie seit 2016 im Centre International d’Art Pariétal zu bewundern ist. Später entdeckten die Römer das mineralische Pigment zum Färben von Stoffen und Kolorieren von Keramik. Auch in der Gegend um Roussillon, das damals vicus russulus (rotes Dorf) hieß, bauten die Römer den Rohstoff ab. Seit der Französischen Revolution erlebte das Färbemittel wegen seiner lichtechten Eigenschaften einen Nachfrageboom. Bis nach Nordafrika und Südamerika wurden die Holzfässer mit der begehrten Ware exportiert.
Laut der Infotafel am Eingang zum Ockerlehrpfad in Roussillon lässt sich für den Aufschwung der Ockerherstellung der im Ort geborene Jean Étienne d’Astier benennen. Jener Mann begann 1785 mit der industriellen Gewinnung von Ocker, woraufhin sich Roussillon vom provenzalischen Provinznest in ein betriebsames Bergarbeiterstädtchen verwandelte. Zur Blütezeit des Ockerhandels im 19. Jahrhundert förderten die Fabriken pro Jahr mehr als 40.000 Tonnen Gestein aus offenen und unterirdischen Steinbrüchen. Der ockerhaltige Sand wurde mit Wasser gemischt, in Klärbecken gegeben, in der Sonne getrocknet und in Windmühlen zermahlen. Um 1930 läutete die Erfindung synthetischer Farbstoffe den Niedergang des Ockerabbaus ein. Heute verarbeitet die letzte in Betrieb befindliche Ockermine nur noch um die 1.000 Tonnen jährlich.
Vor mehr als 100 Millionen Jahren war die gesamte Provence von einem Meer bedeckt. Aus dessen Sedimenten ist in der südfranzösischen Region ockerhaltiger Sand entstanden – eine Melange aus Eisenhydroxid, weißem Ton und Kaolinit. Auf dem Ockerlehrpfad lässt sich bestaunen, welch fantastische Formenvielfalt die Ausbeutung der Ockerfelsen hinterlassen hat. Groteske Gebilde erinnern an Feuerzungen, kegelförmige Skulpturen an überdimensionale Termitenhügel, schroffe Schluchten an Kulissen für Wild-West-Filme, wellenartige Reliefs an ein zu Stein erstarrtes Meer und scharfkantige Silhouetten an Marslandschaften. Zwischen Safrangelb, Glutrot und Rotbraunviolett changieren die erodierten Ockerbrüche, kontrastiert von dem dunklen Grün der Pinien und dem Blau des Himmels. Wie gerne würde man sich eine Handvoll von dem farbenprächtigen Sand stibitzen, nur ist das auf dem geschützten Areal verboten. Ohnehin trägt schon jeder Besucher unvermeidlich zur Reduzierung des Vorkommens bei. Am Ende des Lehrpfades sind Hosen und Schuhe über und über mit rötlichem Staub paniert. Ganz legal ist das Farbpulver in den Andenkenläden und Ateliers im Dorf zu haben, nebst vielen anderen provenzalischen Dauerbrennern wie Keramik, Olivenöl und Lavendelsäckchen.
Wer mehr über die Geschichte des Ockers erfahren will, kann in Roussillon die Usine Mathieu besichtigen. Die stillgelegte Ockerfabrik beherbergt heute das „Conservatoire des ocres et de la couleur“, eine Kombination aus Industriemuseum, Galerie und Werkstatt. Installationen verdeutlichen, wie knallhart und gesundheitsschädigend die Arbeit in den Ockerbrüchen war. Es lassen sich alte Becken, Öfen und Mühlen anschauen, in denen der ockerhaltige Sand ausgeschlämmt, erhitzt und pulverisiert wurde. Privatpersonen und Professionelle können Führungen und Seminare buchen, um das Gestalten mit Ocker zu erlernen oder zu perfektionieren. Für diejenigen, die nun inspiriert sind, das natürliche Pigment auch zuhause auf Lein- oder Hauswände zu pinseln, hält die Boutique des Konservatoriums ein breites Spektrum an Ockernuancen bereit.
In Gargas nur acht Kilometer von Roussillon entfernt kann man noch tiefer in die Vergangenheit der Ockergewinnung eintauchen. Hier stehen die Mines de Bruoux – ein unterirdisches Ockerbergwerk, von dem ein Teil geführt besichtigt werden kann. Zwischen 1848 bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Ockerarbeiter einen mehr als 40 Kilometer langen Stollen in den orangegelben Felsen gegraben. Die Tourismuswerbung betitelt das bis zu 15 Meter hohe labyrinthische Gewölbe auch als „Kathedrale des Ockers“.
Wiederum nur 15 Kilometer weiter östlich bei Rustrel lockt mit dem sogenannten „Colorado Provençal“ die nächste Ockersehenswürdigkeit. Rundwege führen durch die rund 30 Hektar großen Ockerbrüche, deren Konturen die Assoziation mit den monumentalen Sandsteinformationen nahelegen wie sie in den Nationalparks im Westen der USA zu finden sind, aber auch wie Miniaturausgaben afrikanischer Wüsten erscheinen. Durch dieses von Menschenhand geformte und von jüngeren Witterungen fein geschliffene geologische Wunderland leiten Schilder zu den „Cheminées de Fées“ (Feenkamine), fragil wirkenden Felsnadeln, zur „Désert blanc“ mit ihren hellen Klüften und zur „Sahara“ in kräftigen Ockerfarben.
AUF DEN SPUREN DES OCKERS
Office de Tourisme von Roussillon: http://otroussillon.pagesperso-orange.fr
Ockerlehrpfad in Roussillon: http://otroussillon.pagesperso-orange.fr/ang_sentier.html
Konservatorium in Roussillon: www.okhra.com
Mines de Bruoux bei Gargas: https://www.minesdebruoux.fr/
Colorado Provençal bei Rustrel: https://coloradoprovencal.fr/
Ach…. wie wundervoll geschildert und bebildert …. ;-) Die Auszeichnung schönste dörfer ist mehr als gerecht fertigt!