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Löwenköpfe in Sojasauce


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Schon vor Jahrtausenden hat ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem die südchinesische Provinz Sichuan in einen agrarischen Garten Eden verwandelt. Ein kulinarischer Streifzug durch die Region, die auch als „Land des Überflusses“ bezeichnet wird und weit mehr hervorgebracht hat als den bekannten Pfeffer.

Ich muss sie in dem bunten Gemüse übersehen haben, zwischen all den Wurzeln, Blättern, Knollen und Stängeln, jedenfalls hatte die kleine grüne Chilischote den Weg in meinen Mund gefunden und mir das Gefühl gegeben, wie ein Feuerdrache speien zu können, sollte ich den Rachen öffnen. Aber weil ich mich an einem fein gedeckten Tisch in einem vornehmen Hotelrestaurant befand, tat ich das natürlich nicht und versuchte, die flammende Zunge mit Jasmintee zu löschen.

Mein erster Kontakt mit der Sichuan-Küche war zugleich ein intensiver. Dummerweise hatte ich darauf vertraut, dass der Schärfegrad der Speisen auf westliche Weichlinge eingestellt sein würde. Denn schließlich sitzen wir im Jin Jiang Hotel, in dem schon seit Jahrzehnten internationale Gäste absteigen. Das 700-Zimmer-Traditionshaus liegt am inneren Ring von Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan im Südwesten Chinas. Aus den Panoramafenstern sehen wir den braunen Brokatfluss und dahinter stahlgrauen Wolkenkratzerwald bis zum dunstigen Horizont. Als die Dunkelheit hereinbricht, beginnt die Megastadt wie ein weltumspannender Paillettenfummel zu blinken. Rund elf Millionen Menschen leben in der Großstadtregion.

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Dieses Gemüse sieht harmlos aus, aber ist es das auch?

Meine erste Lektion: Chilischoten werden in der Sichuan-Küche sehr spendabel eingesetzt und können sich in den farbenfrohen Gerichten hervorragend verstecken. Und ich lerne, dass sie noch viel schlimmer sind als der Sichuanpfeffer, für den die Region über die Grenzen Chinas hinaus bekannt ist. Oder anders schlimm. Denn die rotbraunen bis schwarzen Samenkapseln, die meist gemahlen ins Essen finden, haben es ebenfalls in sich: Sie können auf den Lippen ein Gefühl der Taubheit hinterlassen. Doch es stellt sich heraus, dass nicht alle Schalen, Schüsseln und Platten, die uns klassisch chinesisch auf der Glasscheibe in der Tischmitte serviert werden, von Chili oder Sichuanpfeffer dominiert sind. Die Tofustreifen zum Beispiel kommen mild am Gaumen an, ebenso die klare Suppe mit Pilzen, die Bittergurkenstücke, der butterweiche, sattorange Kürbis und die zu einem Hügel drapierten eingelegten Wassermelonenschalen.

Schon vor über zwei Jahrtausenden wurden im Roten Becken von Sichuan die Weichen für einen agrarischen Garten Eden gestellt: mit dem Bewässerungssystem von Dujiangyan, das die Wassermassen des Min-Flusses mit einem fischmaulförmigen Deich teilt, bei Überschwemmungsgefahr mit einem Sandwehr reguliert und schließlich durch einen Abfluss, der in eine Bergflanke geschlagen wurde, in die Ebene leitet. Mehr als zwei Jahrzehnte werkelten die Baumeister an dem Mammutprojekt. Zur Stauung des Wassers verwendeten sie in Bambus eingeflochtene Steine – eine Konstruktion, die alle paar Jahre erneuert werden musste. Seitdem trägt das Rote Becken gigantische Mengen an Gemüse und Früchten aus, was auch gut so ist, weil es Millionen von Mäulern zu stopfen gilt: Sichuan, auch „Land des Überflusses“ genannt, ist die bevölkerungsreichste Gegend des bevölkerungsreichsten Landes der Welt.

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Das Bewässerungssystem von Dujiangyan

Unsere nächste Station ist das Chengduer Kettenrestaurant Shu Jiu Xiang, bekannt für seinen Feuertopf. Nach dem Fondue-Prinzip gruppieren wir uns um einen Tisch mit brodelnder Brühe, in die wir mit kleinen Kellen vorbereitete Fleisch- und Gemüsestücke versenken. Als Beilage werden dünnes Fladenbrot und Reis gereicht. Ich bin seit vielen Jahren Vegetarierin, was ich als edle ethische Gesinnung und tiefgreifenden Verzicht ausgeben könnte, doch in Wirklichkeit ist es ganz banal: Fleisch schmeckt mir nicht. Schon seit ich mich erinnern kann. Deshalb habe ich keine Ahnung, wie das knusprig aussehende Schweinefleisch geschmeckt hat. Und die Bällchen, zusammengemengt aus welchen tierischen Bestandteilen auch immer. Konfuzius soll mal gesagt haben, „ohne Fleisch können wir leben, ohne Bambus müssen wir sterben“. Mir geht es so mit Oliven, Brot und Käse. Das Feuertopfessen kostet zwischen 120 und 250 Yuan, also etwa zwölf bis 25 Euro. Wer günstiger satt werden will, findet in vielen Straßen der Stadt kleine Garküchen.

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Feuertopfessen im Chengduer Kettenrestaurant Shu Jiu Xiang

In den nächsten Tagen fahren wir durch das Hinterland, vorbei an grellgrünen Reis- und dunkelgrünen Lotusfeldern, Gewächshäusern mit Kiwis und Teeplantagen. Wir kehren in Restaurants ein, in denen viele Speisen bekannt zu sein scheinen, es aber nicht sind: die in Öl gebratenen Süßkartoffelblätter (erinnern an Mangold), die hellgelbe Shanyao-Wurzel (sieht aus wie Bambus), die Fäden aus Wasserbrotwurzel (ähneln Glasnudeln) und die Wasserkastanien, die wie Gnocchi in der Suppe mit Mais und Chinakohl schwimmen.

Als Pflanzenesserin kann ich freilich nicht beurteilen, wie das Rindfleisch mit Rettich und der zweimal gebratene Schweinebauch mit Karotten geschmeckt haben, außer dass die Fasern vor rosiger Zartheit manchmal fast von selbst von den Knochen zu fielen schienen. Dazu tranken wir Buchweizen- oder Jasmintee, chinesisches Bier und hochprozentigen Schnaps aus dem Süßgräsergewächs Sorghum, für den ganz kleine Gläser bereitstehen, nicht viel größer als ein Fingerhut, was auch besser so ist, denn an den Tischen stößt ständig irgendwer mit irgendwem auf irgendwas an.

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Optisch machte das Fleisch auf mich einen sehr guten Eindruck.

Eine weitere Erkenntnis, die ich über die chinesische Küche gewann: Sie bedient sich gerne bildhafter Bezeichnungen, ganz wie die Tai-Chi-Kampfkunst. Im Volkspark von Chengdu hatte ich die Schattenboxer bei Übungen wie „Die Mähne des Wildpferdes teilen“, „Den Vogel am Schwanz packen“ und „Den Bogen spannen und den Tiger erschießen“ beobachten können. Bei unseren Schlemmersitzungen in den Sichuan-Restaurants kosteten wir Tigerhaut (grüne Paprika), Löwenköpfe (Hackfleischklopse in Sojasauce) und den „Tofu der pockennarbigen alten Frau“, der nach seiner Erfinderin benannt wurde.

In Leshan, wo wir den größten Steinbuddha der Welt besuchen, schauen wir uns auch noch den Markt an – ein unfassbares Chaos aus Gemüse-, Fleisch- und Fischständen, Passanten, Rad- und Rollerfahrern. Um ein Haar wäre ich auf einen blutigen Fischkopf getreten, weil ich mit den Augen ganz woanders war, bei einem kunstfertigen Zeichner. Am Nachbarstand hängt frisch geschlachtetes Geflügel mit den Hälsen nach unten. Gegenüber hoppeln Kaninchen in einem Käfig. Daneben wird Bambus geschält. Auf einem Tisch türmen sich Auberginen und Chinakohl. Es riecht nach Rettich, Staub und Verwesung.

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Marktbesuch in Leshan

Wir reisen weiter dorthin, wo sich laut Si Gou die „Seele der Sichuan-Küche“ befindet: nach Pixian bei Chengdu. Der Jungunternehmer hat in Toronto Wirtschaft studiert und vermarktet nun das Kochmuseum seines Vaters, das aus dessen Koch- und Sammelleidenschaft hervorgegangen ist. Nachdem wir die Ausstellung mit über 3.000 Küchengegenständen, Bildern und Urkunden aus der Bronze- bis zur Jetztzeit passiert haben, gelangen wir zum Küchengott, der hier in einem eigenen Tempel logiert, dann zu Fässern, in denen Chilibohnenpaste reift, und schließlich zum Restaurant Cao Se Tian Ya, was so viel bedeutet wie der grüne Rand des Himmels. Durch eine Glasscheibe können wir den Köchen beim Schnippeln, Braten, Rühren, Schwenken und Würzen zusehen. Neben Chili und Sichuanpfeffer kommen Ingwer, Knoblauch, Sternanis und Koriander zum Einsatz.

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Chilibohnenpaste
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In der Küche des Museumsrestaurants

Das Besondere an der Sichuan-Küche sei ihre Ausgewogenheit und Vielseitigkeit, findet Gou. „Und dass sie sich immer weiterentwickelt.“ In Kanada hat der Chinese seine Ernährung allerdings eher einseitig gestaltet, am liebsten sei er bei McDonald’s eingekehrt. Und welches Gericht aus der Sichuan-Küche ist sein Favorit? „Der zweimal gebratene Schweinebauch.“

DIE SICHUAN-KÜCHE KOSTEN
Informationen zur Provinz Sichuan gibt es unter www.scta.gov.cn. Ikarus Tours (www.ikarus.com) bietet eine neue Rundreise durch die Region an, bei der auch das Kochmuseum in Pixian besucht wird.