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Noch einen Coca-Tee, bitte!


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Es erscheint schon etwas anmaßend, den „Thron des Mondes“ zu besteigen. So nennt die indigene Bevölkerung den höchsten aktiven Vulkan von Ecuador. Wir konnten dem Cotopaxi trotzdem nicht widerstehen, denn mit seinem perfekten Kegel und der Schneekrone ist er ein Prachtexemplar unter den Feuerbergen der Anden. Doch nicht nur sein Anblick, auch die Höhenluft raubte uns den Atem.

Alexander von Humboldt war selbstverständlich auch auf dem Cotopaxi. Es ist überall das gleiche Spiel. Jedes Mal, wenn man sich über den Rand der Zivilisation hinauswagt, um ein wenig Entdecker zu spielen, dann hat sich der nimmersatte Naturforscher garantiert schon dort herumgetrieben. Und dann zerplatzt die Illusion, dass man gerade etwas ganz Neuartiges erlebt, und es stirbt die Hoffnung, dass man eine Tapferkeitsmedaille erhalten könnte. Denn an Humboldts Heldenhaftigkeit reicht keiner heran. Zumal der Weltvermesser im 19. Jahrhundert seine Expeditionen noch ohne GPS und silberionenveredelte Hightechkleidung bestritt.

Wahrscheinlich gab es zu Humboldts Zeiten auch die signalroten Superpillen gegen Höhenkrankheit noch nicht, die ich am Morgen unserer Vulkanbesteigung im Hotelzimmer entdeckt und verschmäht hatte. Genauso wie ich es überflüssig fand, bei den Händlern zuzugreifen, die in ihren Bauchläden bergeweise Coca-Produkte über die Plätze von Quito schaukelten – Coca-Bonbons, Coca-Tee und getrocknete Blätter zum Kauen, seit alters her bewährte Mittel gegen die Beschwerden in luftigen Höhen: Schwindel, Übelkeit, Frösteln und Kopfschmerzen. Ich war guter Dinge, dass es nicht so schlimm werden würde. Schließlich wollten wir nicht bis oben auf den 5.897 Meter hohen Gipfel, sondern nur bis zu einer Schutzhütte nahe der Schneegrenze.

Etwa zwei Stunden waren wir von der ecuadorianischen Hauptstadt Richtung Süden gefahren, bis am Horizont hinter einem dichten Wolkenvorhang ganz langsam der makellos modellierte Kegel des Cotopaxi auftauchte. Der Hüne ist aber nicht nur ein Superlativ des Ebenmaßes und der Erhabenheit, sondern auch der höchste aktive Feuerberg an der „Avenida de los Volcanes“, wie Humboldt die weltweit einzigartige Ansammlung von Vulkanen auf seiner Südamerika-Expedition 1802 nannte. Die nächsten Nachbarn des Cotopaxi sind der Iliniza Norte und Iliniza Sur. Nach Ansicht der indigenen Bevölkerung ist der eine Vulkan männlich und der andere weiblich. Die Berge sind jeweils mehr als 5.100 Meter hoch – eine Partnerschaft auf Augenhöhe also, aber nicht mehr leidenschaftlich glühend: Beide Vulkane sind erloschen.

Vulkane Wolken
Das Vulkanpaar Iliniza Norte und Iliniza Sur

Der letzte Ausbruch des Cotopaxi ereignete sich 1904, und der nächste hätte rein statistisch längst stattfinden sollen. Nicht nur wegen der dünnen Luft ist uns deshalb etwas mulmig zumute. Außerdem erscheint es uns recht anmaßend, den „Thron des Mondes“ besteigen zu wollen. Diese Bedeutung hat der Cotopaxi für die Indios. Wir hingegen denken, dass die beschneite Spitze eher so aussieht, als wäre der Mond daran zerschellt und ausgelaufen. Weil wir die Götter nicht erzürnen wollen, die angeblich ebenfalls auf dem Cotopaxi residieren, behalten wir das aber für uns.

Als wir auf dem Parkplatz stoppen, hat sich die Schneekrone fast vollständig aus dem Wolkenponcho gewickelt. Wir befinden uns jetzt schon auf 4.658 Metern. Unterwegs haben wir noch unseren Bergführer Emilio eingesammelt und uns an den Ständen des Besucherzentrums mit Alpaka-Strümpfen und -Mützen gegen die dräuende Kälte eingedeckt. Kaum dass ich ausgestiegen bin, möchte ich eigentlich sofort wieder umdrehen. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würde ein schweres Brett darauf lasten. Ich atme heftig und hektisch, aber meine Lunge will sich partout nicht mit Sauerstoff füllen. Und jetzt soll ich den steilen, gerölligen Hang da rauf? Mir bricht der kalte Schweiß aus. Warum bloß habe ich die roten Pillen nicht eingeworfen oder einige Coca-Muntermacher erworben?

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Der Parkplatz, von dem unsere Wanderung startet

Für Emilio, ein durchtrainiertes Federgewicht aus dem Hochland, ist die Besteigung des Cotopaxi nicht mehr als ein sportlicher Spaziergang: „Einmal pro Woche gehe ich da hoch, um in Form zu bleiben“, erzählt er auf Deutsch. Wir erfahren, dass Emilio einige Jahre an der Universität in Bonn Genetik studiert hat. Auch für seine Landsleute scheint der Cotopaxi keine große Herausforderung zu sein, jedenfalls ist er bei den Quitenos ein angesagtes Sonntagsausflugsziel. Die Kinder sind heiß auf den Schnee, den es in dem Land am Äquator nur auf einigen Bergen gibt.

Schnell erkennen wir, wer von den Cotopaxi-Besteigern aus der Fremde und wer aus der Umgebung stammt: Die Einheimischen arbeiten sich den direkten Weg zur Bergstation José Ribas herauf, während die Touristen einen Serpentinenpfad wählen. Die Touristen tragen Outdoorkluft und Kameras, die Ecuadorianer modische Stiefel und manchmal auch Schoßhündchen und Steppkes, denen die Puste ausgegangen ist. Die erwachsenen Quitenos machen einen guten Eindruck. Als Bewohner der höchstgelegenen Hauptstadt der Welt sind sie aber auch bestens präpariert.

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Bergführer Emilio

Wir Flachländer sind mit weniger roten Blutkörperchen ausgestattet und müssen uns Schritt für Schritt, Meter für Meter den Vulkan hinaufkämpfen. Mit jeder Serpentine wird die Luft dünner und der Wind bissiger, nehmen die Kräfte ab und die Selbstzweifel zu. „Geht langsam, trinkt viel und versucht, euren eigenen Rhythmus zu finden“, hatte uns Emilio instruiert. Darauf konzentriere ich mich nun, und ja, es funktioniert!

Ich verfalle in einen meditativen Trott, lediglich unterbrochen von kurzen Pausen, um die Aussichten aufzusaugen: Oben strahlt der eischneeweiße Vulkanschönling, unten erstreckt sich die grünbraune Schwemmlandebene des Cotopaxi-Nationalparks mit wattigen Wolkenbergen am babyblauen Himmel. Eine Weite mit unzähligen Ebenen, eine Bühne der Natur, auf der sich die Kulissen und Dimensionen mit jeder Serpentine zu verschieben scheinen und Kleinbusse zu Matchboxautos schrumpfen, Menschen zu Ameisen und Straßen zu Adern.

Cotopaxi Wolken
Die Ebene des Cotopaxi-Nationalparks

Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit die Bergstation erreiche, bestelle ich am Tresen mit mattem Stimmchen einen Coca-Tee. Das nach Heu duftende und nach Gras schmeckende, angenehm gezuckerte Gebräu wirkt Wunder: Die Kälte weicht aus den Gliedern, mein Herz schlägt ruhiger, der Taumel verfliegt. Ich erkläre Coca-Tee ab sofort zu meinem neuen Lieblingstee. Noch einen Becher, bitte! Und noch einen! Jetzt könnte ich glatt noch höher steigen! Wir waren ja auch erst eine halbe Stunde unterwegs und haben nicht einmal 200 Höhenmeter bewältigt. Und an der Schutzhütte geht es eigentlich erst richtig los. Vor dem Gipfelaufstieg, der kurz nach Mitternacht beginnt, nächtigen die Wanderer oben unterm Dach. Doch für unsere Gruppe ist das Abenteuer hier zu Ende, unser Schlusslicht trifft auf dem letzten Loch pfeifend und mit aschfahlem Gesicht an der Bergstation ein. Zumindest haben wir es auf 4.810 Meter geschafft. Das entspricht immerhin der Höhe von Europas höchstem Berg, dem Mont Blanc.

Cotopaxi
Fotopause auf dem Weg nach unten
Fotos: pa

Vom Cotopaxi herunter geht es dann im Sauseschritt, dass der Staub nur so wirbelt. Verleihen uns die Endorphine Flügel, weil wir an unsere Grenzen gegangen sind? Hängt das Gefühl der Schwerelosigkeit mit einer Überdosis Coca-Tee zusammen? Oder sind es die atemberaubenden Aussichten, die uns so berauschen? Wahrscheinlich ist es ein bisschen von allem.

BERAUSCHENDE VULKANE
Informationen zu Ecuador gibt es auf der Seite des Tourismusministeriums unter http://ecuador.travel.

4 Comments

  • Es wäre einfacher gewesen am Chimborazo von der 1. zur 2. Schutzhütte zu laufen. Im Gegensatz zum Cotopaxi läuft man dort nämlich über Felsgestein, während der Aufstieg über Vulkanasche am Cotopaxi viel Kraft kostet.

    • Hallo ihr Ecuador-Experten,

      vielen Dank für die Ergänzung. Es stimmt, der rutschige und sandige Untergrund am Cotopaxi ist ungemein kräftezehrend. Ich nehme mal an, die Etappe von der 1. zur 2. Schutzhütte auf dem Chimborazo liegt noch einige hundert Meter höher?

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