Deutschland, Nie wieder

Ich wollte doch nur lesen


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Nie wieder will ich mit irgendwelchen Plänen eine Zugfahrt antreten, denn …

… es funktioniert nicht. Ja, es ist einfach so. Sobald man sich fürs Bahnfahren etwas vornimmt, sei es auch nur, sinnierend aus dem Fenster zu schauen oder ein Schläfchen zu halten, gar nicht mal anspruchsvolle Fachliteratur studieren oder arbeiten zu wollen – irgendeine kosmische Energie arbeitet dagegen. Immer, überall, ausnahmslos. Es ist ein Naturgesetz.

Ich hatte das Schlüsselerlebnis zu dieser endgültigen, von jedem Glauben an eine Veränderung der Gesetzmäßigkeit befreiten Erkenntnis nicht in jenem Supersommer, als die ICE-Klimaanlagen reihenweise in die Knie gingen und man sich fühlte wie in einer Sauna auf Schienen mit hermetisch verriegelten Ausgängen. Ich hatte es auch nicht auf einem der Trips in der kalten Jahreszeit, als die Züge aufgrund überraschender Wintereinbrüche mit Eis und Schnee liegenblieben und die einzige Gewissheit war, dass sich die Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit verzögern würde. Nein, ich hatte es auch nicht auf einer der vielen Reisen zu Weihnachten, auf denen sich der Weg zum reservierten Sitzplatz immer wieder als Hürdenlauf über Koffer, Geschenke und Menschen ohne Sitzplatzreservierung gestaltete – alle Jahre wieder das gleiche Spiel, man kennt das schon und beschränkt sich auf einen Rucksack, um die Gepäckgebirge besser überwinden zu können.

Es war auch auf keiner der Bahnfahrten mit Triebwerkschaden oder Verzögerungen im Betriebsablauf oder Störungen durch andere Züge mit Triebwerkschaden oder Verzögerungen im Betriebsablauf. Nein, es waren nicht die Bahnen mit geschlossenen Bordbistros oder kaputten Toiletten, die das Maß voll machten, es waren nicht die Züge, die es dann doch schafften, die angezeigte Verspätung zu unterbieten, während ich mich gerade in einem Buchladen oder in einem Café aufhielt anstatt auf dem zugigen Gleis. Nicht die Verbindungen, die ich verpasste, weil der Fahrscheinautomat meine Geldscheine verschmähte, so sehr ich sie auch in Form zupfte, presste und rollte, oder weil der Touchscreen nicht reagieren wollte, so gefühlvoll oder gewaltsam ich ihn auch berührte, oder weil ich hinter Leuten anstehen musste, die den Bildschirm beäugten wie eine Jahrhundertchronik in Hieroglyphenschrift.

Und es waren nicht die Reisen, die gar nicht erst begannen, weil sich das Personal im Streik befand, wofür man grundsätzlich Verständnis hat, oder weil man sich in Mainz bei der Urlaubsplanung der Fahrdienstleiter verzettelt hatte, wofür man weniger Verständnis hat, und dann plötzlich keiner mehr verfügbar war, der sich mit den Stellwerken auskannte, was einen wochenlangen Ausnahmezustand nach sich zog, wodurch auch die Fahrpläne an meinem Startbahnhof Wiesbaden entgleisten – eine Groteske, von der man lieber nur in Glossen über den Service der Deutschen Bahn im ewigen Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit gelesen hätte als mittendrin zu sein. Als überzeugte Nichtautobesitzerin und Vielbahnfahrerin war ich es mehrfach.

Nein, es war diese eine kleine Reise, nur knapp zwei Stunden Tingelei, von Wiesbaden ins beschauliche Neuwied in Rheinland-Pfalz, die das Quäntchen zur finalen Erkenntnis beisteuerte. Eine Bummelbähnchenfahrt mit 22 Halts an Weinstädtchen, Milchkannendörfern und touristischen Sehenswürdigkeiten. Nebst sämtlichen bahntechnischen Unwägbarkeiten hatte ich auch den Faktor „Mensch“ einkalkuliert – in allen seinen Facetten, die er auf Bummelbähnchenfahrten für gewöhnlich zeigt: irgendwelche Fan-Gemeinden mit Bierdurst und Sangeslust, Aktivtouristen mit Sperrgepäck, Frauengruppen mit Pikkolo und Schnaps, Männergruppen mit Bier und Schnaps, Familien mit krakeelenden und kekseknuspernden Kindern, Dorfjugend auf Party, Reisende mit Rollatoren. Und weil sich die Rheingaulinie als eine der „landschaftlich schönsten Eisenbahnstrecken Deutschlands“ rühmt, waren auch fotografierfreudige Touristen aus dem In- und Ausland zu erwarten.

So fühlte ich mich also bestens präpariert, als ich an einem hochsommerlichen Sonntag in eben jene Rheingaulinie stieg. Die Fahrt wollte ich damit verbringen, mich meiner Lieblingswochenzeitung zu widmen und dann und wann aus dem Fenster zu schauen, denn es würde ja das Mittelrheintal vorbeiziehen, das ich schon von anderen Reisen kannte – Heileweltstädtchen, Flussschleifen, Weinberge in abenteuerlichen Steillagen, aus den Felsen wachsende Kirchen und Burgen, die höchste Erfüllung deutscher Romantik-Klischees. Ich hatte mich daran noch lange nicht sattgesehen.

Ruedesheim_Gondel
Touristenmagnet im Mittelrheintal: Rüdesheim mit der Seilbahn zum Niederwalddenkmal

Es fing auch alles ganz prima an. Zwischen Kofferbergen, Kinderwagen, Wanderstöcken und Fahrrädern fand ich noch einen freien Klappsitz. Gegenüber der Toilette, nun ja. Ich faltete die Wochenzeitung auseinander und sogleich wieder zusammen. Mit dem Zug setzte sich auch ein Junggesellinnenabschied in Bewegung und schlug mir die Zeitung um die Ohren. Die Frauen verteilten Becher mit einem erdbeerrotem Getränk an die Mitreisenden und intonierten so laut wie schief „Ole, oleoleole!“. Mit Schrecken stellte ich fest, dass ich meine Kopfhörer vergessen hatte. Als Schutz gegen Dauertelefonierer und Lautmusikhörer sind die Ohrschnuller normalerweise fester Bestandteil meines Bahnreisen-Survival-Kits.

Meine nächsten Leseversuche scheiterten ebenso augenblicklich. Nach dem Junggesellinnenabschied pressten sich Familien mit Picknickkörben durch den Gang, Jugendliche mit Alkopops und Party-Pupillen, Tour-de-France-Nacheiferer mit neontrikotbespannten Bierbäuchlein, Ökolieseln mit Kräuterbeuteln, Gothic-Anhänger in schwarzen Fledermausgewändern und Wanderer, die ihre Rucksäcke und Stöcke wie Speere und Rammböcke in alle Richtungen einsetzten und dabei auch meine Zeitung perforierten. Weil die Fenster alle verriegelt waren und die Air Condition gegen die Sommerhitze nicht ankam, tendierten die Temperaturen in Richtung Sauna. Alles schwitzte und müffelte, die Menschen, das Proviant, Wurstbrote, Käsestullen, braunfleckige Bananen, dazu das Toiletten-Odeur von gegenüber. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, ich wäre an einem stillen See und über mein Gesicht streichelte eine Brise.

In Rüdesheim, so hoffte ich, würde der Spuk vorbei sein. Die meisten würden dort aussteigen, weil sie die Drosselgasse sehen und mit der Seilbahn hinauf zum Niederwalddenkmal gondeln wollen. Bestimmt die Touristen aus Fernost, die nicht weit von mir saßen. Sie schauten abwechselnd aus dem Fenster und freundlich zu mir herüber. Ich schaute freundlich zurück. Kaum hatte ich meine Zeitung wieder ausgefaltet, da schlug mir ein asiatisches Mädchen im Tüllkleidchen ihr satinrosenbesetztes Handtäschchen in die Seiten. Es war keine böse Absicht, ihr waren die Streichholzbeinchen in den rosa Absatzschuhen eingeknickt, als der Zug ruckelte.

Ruedesheim_Drosselgasse
Gedränge in der Drosselgasse

Dann drehte der Junggesellinnenabschied die nächste Runde, „Ole, oleoleole!“, erdbeerroter Fusel für alle. Bewundernd schaute ich zu dem Studenten neben mir, der mit grenzenloser Ruhe irgendetwas von Karteikarten in seinen Laptop tippte und von dem Karneval nichts mitzubekommen schien. Ich atmete tief durch und versuchte, mich ebenfalls mit der Situation zu synchronisieren. Hatte ich mir nicht das Schlimmste vom Schlimmsten ausgemalt, um als Fels des Gleichmuts in allen noch so unkomfortablen Situationen zu bestehen?

Ich hatte gerade die Zeitung ausgefaltet, da donnerte mir beim Halt in Oestrich-Winkel ein Koffer der Asiaten auf den großen Zeh, der ungeschützt in einer Sandale steckte und zu bluten begann. Ich schaute jetzt nicht mehr ganz so freundlich zu den Reisegästen aus Fernost herüber, die wiederum entsetzt zurückschauten und den Koffer aufstellten. Ich überlegte, ob ich den Zeh notdürftig in der Toilette verarzten sollte, entschied mich aber dagegen, weil sich die Klopapierschlangen schon aus der Tür heraus über den Gang ringelten, was erfahrungsgemäß auf eine fortgeschrittene Verschmutzung der Örtlichkeit hindeutet. Ole, oleoleole!

In Rüdesheim verließen die Asiaten den Zug, der Koffer blieb zurück. Er gehörte ihnen offenbar gar nicht. Ich wechselte auf einen Vierersitz und erfreute mich an der Aussicht auf die anmutigen Rheinschleifen, die Felsenkirchen, Burgen und Weinberge, doch schon in St. Goarshausen war es mit dem Frieden wieder vorbei. Touristen, die sich den Loreley-Felsen angeschaut hatten, fluteten die Gänge. Auf meinem Vierersitz nahmen zwei Männer Platz, die mit dem Feingefühl von Bulldozern irgendwelchen Small Talk betreiben wollten, obwohl ich gerade wieder die Zeitung ausgefaltet hatte. In Koblenz stiegen die Männer und der Junggesellinnenabschied aus. Endlich Ruhe, himmlische, göttliche Ruhe! Ich faltete die Zeitung auseinander und gleich wieder zusammen. Denn nun hatte die Schaffnerin das Bedürfnis, mir ihren Ärger über die Erdbeerfuselfrauen („Weiber! Feiern bis zum Umfallen, aber den Dreck liegenlassen“) mitzuteilen. Dann erreichten wir den Bahnhof von Neuwied.

Mittelrhein_Marksburg
Blick von der Marksburg, die gleichfalls an der Rheingaulinie liegt.
Fotos: pa

Im Grunde war es eine Bahnfahrt der eher harmlosen Art: beengend und nervtötend, aber ohne größere Katastrophen. Und ich kam pünktlich an! Die Fahrt war nur der eine Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Seitdem bin ich, was Bahnfahren betrifft, von allen Wünschen, Träumen und Hoffnungen vollständig geheilt. Ein für allemal. Ich bin jetzt die Gelassenheit in Person, wenn ich Zug fahre. Weil ich mir nichts mehr vornehme. Einfach gar nichts. Nullkommanullnullnull. Außer mitzuschwingen mit all dem Unberechenbaren – technischen Pannen, Service-Lücken und Mitreisenden.

7 Comments

  • Großartig und so plastisch, dass man quasi mitriechen kann. Auf Kosten der reisekorrespondentin darf man sich genüsslich kaputtlachen, wird aber zugleich intensiv an die eigenen, glücklicherweise nicht so reichhaltigen, Erfahrungen erinnert.

  • Danke für den wirklich lustigen Bericht – hier in Schweden ist mir das nur zu besonderen Feiertagen und ganz besonders vor Weihnachten aufgefallen, dass man so überfüllte Züge hat. :)
    Grüße aus Schweden Heike

    • Das kann ich mir gut vorstellen. In Schweden geht ja vieles entspannter zu als bei uns, zumindest habe ich das auf meinen drei Reisen (Kanutour, Göteborg-Trip und Busrundreise) so empfunden. Viele Grüße von Pilar

  • Hallo Pilar,habe gerade deinen Blog entdeckt,wirklich interessante und lustige Geschichten wie die Reise im Mittelrheintal oder auch Bad Meinberg.
    Werde weiterlesen!!!
    Ulrike Weidler

  • Ha ha, gerade gefunden und mit grösstem Vergnügen verschlungen. :-))) Danke dir!

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