Wenn der Winter mal wieder keiner war und die Sehnsucht nach verschneiten Märchenwäldern erwacht, dann ist eine Spontanreise in den Nationalpark Harz eine fabelhafte Idee. Ganz planlos sollte man allerdings nicht aufbrechen. Schließlich gilt die Gegend als verhext.
Noch neun Minuten bis zum Ziel, da verlässt uns die Smartphone-Navigation. Funkloch zwischen Sorge und Elend. So heißen zwei Dörfer hier im tiefsten Fichtenwald des Ostharzes. Egal. Dann folgt man eben den Wegweisern, Schließlich wollen auch viele andere Touristen nach Drei Annen Hohne. Von dort dampft die Harzer Schmalspurbahn auf den 1.141 Meter hohen Brocken, der sich seit Jahrhunderten bei Ausflüglern und Hexen gleichermaßen ungebrochener Beliebtheit erfreut.
Und es stehen auch jede Menge Schilder an den Kreuzungen und Kreiseln der Ortschaften, die wir erst noch gemächlich und dann immer schneller passieren: Braunlage, Elbingerode, Schierke, Tanne, Wernigerode. Alles, nur kein Hinweis auf die Brockenbahn. Man würde jetzt gerne einen Menschen fragen, aber da ist keiner auf den Straßen. Halt, dort drüben: zwei Leute an einer Bushaltestelle, die aussehen, als wollten sie den Mount Everest besteigen. Nein, sie haben leider auch keine Ahnung.
Und so brausen wir weiter durch die Kurven, haben keinen Sinn für die Fachwerkhäuser, den Wald, den Fuchs am Wegesrand. Noch 15 Minuten bis zur Abfahrt. Die nächste Bahn fährt in anderthalb Stunden – zu spät, um den Abstieg zu Fuß zu schaffen. Und das wollen wir unbedingt. Zu Fuß hoch und mit der letzten Bahn runter? Keine Option. Wir sind ja nicht so im Training und kennen keine Abkürzungen wie der berühmte „Brocken-Benno“ aus Wernigerode, der fast täglich auf den Berg marschiert und so schon 7.810 Gipfelbesteigungen zusammenbekommen hat (Stand: 29. Februar 2016).
Zum zweiten Mal taucht das Ortsschild von Elend auf, danach das von Sorge. Das darf doch nicht wahr sein. Und vielleicht ist es das auch nicht. Vielleicht haben uns die Brockenhexen verzaubert. Oder die Schilder manipuliert. So muss es sein. Wahrscheinlich schauen sie sich unsere Odyssee gerade von oben an und fallen vor Schadenfreude fast vom Besen. Man kann auch verstehen, dass sie nicht die innigsten Gefühle für uns Feriengäste hegen. Als solche stehen wir unter Generalverdacht, über dem heiteren Touristentheater aus Walpurgisfesten, Hexenpüppchensouvenirs und Kräuterlikören namens „Flugbenzin“ zu vergessen, dass bis in die frühe Neuzeit noch Frauen auf Scheiterhaufen brannten, mit bestialischen Martern als Teufelsweiber identifiziert.
Nur eine Planänderung kann uns jetzt noch retten: Auf nach Schierke, der letzten Station vor dem Brocken. Das Schild hatten wir schon gesehen. Aber wo noch mal? Da, ein gebeugtes Mütterchen schlurft um die Ecke. Ob man ihm trauen darf? Die Brockenhexen treten ja ganz unterschiedlich in Erscheinung. Manche sind alt, manche jung, manche hässlich, manche annähernd schön. Die meisten tragen Flickenkleidung und spitze Hüte, einige aber auch Kopftücher. Charakteristisch sind ferner eine dicke Warze auf der Nase und die Reisigbesen. Das Mütterchen stützt sich auf einen ganz normalen Stock. Es sagt: „Fahren Sie links, hinter der nächsten Kurve rechts, und dann sind Sie auch gleich da.“
Das war keine Hexe, das war eine gute Fee. Fünf Minuten vor der Abfahrt erreichen wir den Bahnhofsparkplatz. Und dann lesen wir auf einem Schild, dass es nun noch zehn Minuten Fußweg bis zu den Gleisen sind. Das war’s dann mit dem Höhepunkt unserer Harzreise, auf den wir uns schon mächtig gefreut hatten. Aus der Traum von weißverzuckerten Landschaften. Denken wir für eine Sekunde, schauen uns an und stürmen los, so schnell es die Winterstiefel erlauben.

Die Fahrt in den Harz war eine spontane Idee gewesen. Was sollte in dem stark frequentierten deutschen Mittelgebirge schon schiefgehen. Es würde genügend Pensionen geben, Ende Februar ist nicht Hochsaison. Am Abend vor der Abreise hatten wir eine Online-Buchungsanfrage gestartet: keine Reaktion. Von unterwegs rufen wir an, irgendwann klackt es in der Leitung und es meldet sich ein fröhlicher Mann, im Hintergrund Stimmengewirr und Lachen: „Hallo … nee .. wir haben Betriebsferien.“ War das jetzt eine Rufumleitung in die Stammkneipe oder in die Dominikanische Republik? Zweiter Anruf anderswo: Niemand hebt ab. Dritter Anruf: Wir sind ausgebucht. Vierter Anruf: Wir haben die Handwerker da. Erste Zweifel an unserer Unternehmung erwachen. Fünfter Anruf: Zimmer frei, hurra.
Das Vertrauen in die touristische Infrastruktur der Region war so grenzenlos gewesen, dass wir uns ohne Landkarten und Apps, die auch offline funktionieren, ins Auto geschwungen hatten. Die Brockenbahn würde im 30-Minuten-Takt verkehren. Da musste man nicht nachschauen. Wenn man gewusst hätte, dass es nur ein Gleis gibt und die Fahrt von Schierke auf den Gipfel eine halbe Stunde dauert, dann hätte man auch gewusst: Das kann nicht sein.
Und so hetzen wir den Berg hinauf. An einer Wegzweigung die Entscheidung: einen Kilometer an der Straße entlang oder 800 Meter durch den Wald, aus dem gerade ein Mann mit Hund biegt. Was ist schneller, frage ich den atemlos, und er sagt: „Hier durch, ist aber etwas rutschig.“ Wir stürmen vorbei, der Mann ruft uns hinterher: „Ich bringe euch.“ Mit dem Mann und dem Hund eilen wir zurück zum Parkplatz.
Dann sitzen wir auf den roten Bänken der Bahn und können unser Glück nicht fassen. Nichts ist so, wie wir es uns vorgestellt hatten: Es ist noch viel wundervoller. Wenn es stimmt, dass die Hexen das Brockenwetter in ihren Kesseln zusammenbrauen, dann meinen sie es nun sehr gut mit uns. Kaum haben wir den Bahnhof verlassen, beginnt ein wilder Schneeflockentanz, verwandelt sich der Wald in eine Puderzuckerkristallpracht, kommt dichter Nebel auf und wirft der Landschaft einen blaugrauen Schleier über – beste Bedingungen für Begegnungen mit einem Brockengespenst, wie Goethe den optischen Effekt bezeichnete, bei dem Schatten verzerren und zu schweben beginnen. „Huhuuuuu“, heult die Brockenbahn.






Goethe hat den höchsten Berg im Harz gleich dreimal bestiegen. Er stellte geologische Forschungen an und recherchierte für die Walpurgisnacht in seinem „Faust“. Zitate aus der Szene waren uns schon auf den Karten der Andenkenläden begegnet: „Denn wenn es keine Hexen gäbe, / Wer Teufel möchte Teufel sein.“ Und: „So geht es über Stein und Stock, / Es furzt die Hexe, es stinkt der Bock.“ Seit Jahrhunderten gilt der Blocksberg als Deutschlands größter Hexenversammlungsplatz. Jedes Jahr Ende April ist er das auch wirklich, wenn Tausende von Besuchern verkleidet zu den Walpurgisfeiern erscheinen.
Viel zu schnell erreichen wir die Endstation. Eisiger Wind schlägt uns entgegen. Es schneit. Der Dunst umgibt uns wie eine graue Wand. Irgendwo dahinter müssen sich das Brockenhotel, der Brockengarten und eine Wetterwarte befinden, außerdem eine Sendeanlage und das Informationszentrum des Nationalparks Harz in einer ehemaligen Stasi-Abhöreinrichtung. Über den „Brocken-Benno“ ist zu lesen, dass seine Wanderobsession daher rührt: Im August 1961 wurde der Brocken im Grenzgebiet der DDR zur BRD zum militärischen Sperrgebiet erklärt. 28 Jahre konnte Benno Schmidt, so der bürgerliche Name, den Berg nur aus der Ferne sehen. Mittlerweile ist der Mann 83 Jahre alt. Sein Nachholbedarf hält an.
Wie aus dem Nichts taucht ein Strom von Touristen auf, der Richtung Brockenbahn fließt. Warum war es uns noch mal so wichtig gewesen den Berg hinunterzuwandern, anstatt mit der mollig warmen Bahn zurückzuzockeln? In der Hexenklause des Brockenhotels präparieren wir uns mit einem heißen Getränk für den Abstieg. Dann aber los, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit unten ankommen. Beim Last-Minute-Kofferpacken hatten wir auch nicht an Taschenlampen gedacht.
Als wir vor die Tür treten, hat es aufgehört zu schneien. Dafür weht der Wind umso eisiger. Die Bergkuppe ist wie ausgestorben. Auch die Brockenhexen scheinen bei den Witterungen lieber in ihren Stübchen zu sitzen, um am Ofen ihre Flüchefibeln zu studieren. Die Straße verliert sich im bleigrauen Nebel. Irgendwann sehen wir ein junges Paar mit Mountainbikes. Es beratschlagt, wie es die verschneite Piste herunterkommt, ohne sich den Hals zu brechen: schieben.





Wir schicken ein Stoßgebet nach irgendwo, dass die Hexen bitteschön jetzt nicht an den Schildern drehen mögen, sonst hätten wir ein ernsthaftes Problem. Drei Autos überholen uns, bald verschwinden die Fahrradfahrer aus dem Blick, wir sind allein auf weiter Flur. Aus der Ferne schallt das „Huhuuuuu“ der Schmalspurbahn. Dann ist es wieder still. Wo sind all die anderen Wanderer? Auf dem ganzen Weg nach unten treffen wir niemanden mehr: keinen Brocken-Benno und keine andere Menschenseele, keine Hexen, keine Brockengespenster, kein Tier.
Das Wintermärchenreich gehört uns – die weiß gepuderten Baumwipfelmeere, die Steine unter den Schneedecken, die Bächlein mit Kristallkunstwerken. Nach einer guten Stunde reißt der Himmel auf, Sonnenstrahlen zwängen sich durch die Bäume. Alle Wege sind idiotensicher beschildert. Kurz vor der Dämmerung erreichen wir den Parkplatz in Schierke. Liebe Hexen, gute Feen und Mitmenschen: Dankeschön, dass es war, wie es war.




Fotos: pa, ls (3)
BESSER INFORMIERT UND WELLNESS UNTER DEM THALER HEXENTANZPLATZ
Eine Winterwanderung lässt sich kaum angenehmer krönen als mit einem Thermenbesuch. Die Bodetal-Therme in Thale ist dafür wärmstens zu empfehlen. Hinter der „Hexenblicksauna“ rauscht die Bode – und droben auf den Bergen funkeln die Lichter des örtlichen Hexentanzplatzes. Wer sich auf die Reise besser vorbereiten will, findet Informationen zum Brocken und der Umgebung beispielsweise hier: www.harzinfo.de, www.oberharzinfo.de und www.harzlife.de. Die Fahrpläne der Harzer Schmalspurbahnen stehen unter www.hsb-wr.de.
Toller Titel!
Freut mich! Zur Frage: Das kommt darauf an, für welchen der Wege man sich entscheidet. Unsere Route war zirka acht Kilometer lang.
So wie die Kommentar-Überschrift hier lautet, finde ich den Titel noch toller.
;-)
Ich mus gestehen, gerade den Anschluss verloren zu haben … welche Kommentar-Überschrift?
… und die übrige Erzählung auch (schön zu lesen vom „warmen Stübchen“ aus). Wie viele Kilometer waren es eigentlich da runter? Bild Nr. 5 ist einfach großartig!
Ja, schön ist er, der Harz. Den Brocken, den Blocksberg, den Berg aus dem Faust muss man besucht haben. Er ist immer anders. Danke für den Bericht und die tollen Bilder.
Hallo ihr Traumradler,
und ich bedanke mich für den Kommentar. „Er ist immer anders“ – ja, ganz bestimmt. Im Sommerkleid möchte ich den Harz auf jeden Fall auch mal erleben, zu Fuß oder vielleicht auch mit dem Rad.
Sorge und Elend gibt es da irgendwo bei Braunlage, oder? Wer des Glückes überdrüßig ist, der breche auf! Funklöcher hat es zwar überall reichlich in Deutschland, nicht bloß in der DDR. Wer telefonieren will, scheint in Damaskus oder Kabul besser aufgehoben. Schade finde ich, dass es im Harz so viel Nadelwald gibt. Ich finde Laubwald besser. Hinter dem Harz, an dessen Rand, gibt es wunderbare Ortschaften. Deshalb einfach durch den Harz durchfahren.
„Einfach durch den (das) Harz durchfahren…“, sagte die Fliege.
Jetzt sitzt sie im Bernstein fest.
Also pass auf, dass Harz nicht über dich kommt
Monatelang keine Infos mehr zu diesem Blog erhalten, und dann – an so einem heißen Tag – ausgerechnet diese alte Wintergeschichte…
Wie manche sich gerne zur Winterzeit an Sonnengeschichten wärmen, so kompensieren andere vielleicht gerne Backofentemperaturen mit Schneegeschichten? ;-)