Genie, Skandalnudel, Raffzahn: Ganz gleich, was man von Salvador Dalí halten mag. Die Costa Brava, deren Formen sich auf den Bildern des Surrealisten vielfach wiederfinden, ist ein Meisterwerk der Natur. Eine Spätsommerreise durch die nordspanische Region, die ihrem berühmten Sohn nach allen Regeln der Vermarktungskunst huldigt.
Der beste Platz, um sich vom Besuch des Teatro-Museo Dalí in Figueres zu erholen, ist Sant Pere. Man braucht nur einige Meter durch die Touristentrauben auf der Plaça Gala i Salvador Dalí zu taumeln, schon steht man im Schummerlicht des Gotteshauses. Wenn man dann in die Stille lauscht und auf die schlichten Gemäuer katalanischer Gotik schaut, verliert das Bilderkarussell aus Monsterskulpturen, trügerischen Installationen und fiebertraumhaften Gemälden an Fahrt, komprimiert sich die labyrinthische Kunstkitschkarikaturkollektion zu einem grellen Gruselkabinett, verschwimmen die Ameisen, Heuschrecken, Hängebrüste, Krücken und Knochen zu einem einzigen Schreckgespenst ostentativer Vergänglichkeitssymbolik.
Ohne das Vermächtnis des berühmten Sohnes würde der Fremdenverkehr in Figueres wohl weniger florieren. Die nordspanische Kleinstadt, in der Salvador Felipe Jacinto Dalí 1904 geboren und 85 Jahre später zu Grabe getragen wurde, kann gegen die Nachbarorte an der Costa Brava nur mit besonderer Unscheinbarkeit konkurrieren: keine Badestrände, keine Klippen, keine Meilen für Sangríasausen, kaum Pittoreskes. So aber rollen die Gäste busladungsweise ins Zentrum von Figueres. Mit mehr als einer Million Besuchern jährlich gehört das Dalí-Museum nach dem Prado in Madrid zu den wichtigsten Ausstellungshäusern des Landes.
Eben dort, wo im Spanischen Bürgerkrieg das Stadttheater zu Bruch ging, ließ sich der umstrittene Künstler in den 1970er Jahren einen monumentalen Tempel der Selbstbeweihräucherung errichten. Wie ein Hybrid aus Burg und Knusperhäuschen thront das Bauwerk in der Altstadt. Die weinrote Fassade ist mit Bauernbrotreliefs gespickt, auf dem Dach und dem Galatea-Turm balancieren riesige Eier und goldene Statuetten, dahinter wölbt sich eine bläulich schimmernde Glaskuppel. Unter dieser ruhen in einer Krypta die sterblichen Überreste Dalís, eingehüllt in eine mit einer Krone bestickte Tunika und vollgepumpt mit Konservierungsmitteln. Testamentarisch hatte der Meister der Nabelschau verfügt, sein Leichnam möge mindestens 300 Jahre überdauern. Die Totenmesse fand – wie schon die Taufe Dalís – in der Kirche Sant Pere statt.


In seiner Autobiografie „Das geheime Leben des Salvador Dalí“ attestiert sich der Surrealismusvertreter schon im frühen Kindesalter eine Tendenz zur Selbstherrlichkeit: „Ich war der absolute Herrscher des Hauses“, heißt es im Prolog. Und weiter: „Am Dreikönigstag bekam ich neben unzähligen anderen Geschenken eine strahlend schöne Königstracht – eine mit großen Topasen besetzte Goldkrone und einen Hermelinumhang; von da an lebte ich fast ununterbrochen in dieser Verkleidung.“
So erinnert das Dalí-Theatermuseum, in dem das ewige Kind nach dem Tod seiner abgöttisch verehrten Gala 1982 mehr vegetierend als lebend seine letzten Jahre verbrachte, denn auch an ein unaufgeräumtes Spielzimmer: Theater, Galerie und Jahrmarkt in einem. Zuerst stolpert man in den amphitheaterähnlichen Innenhof, wo aus den Fensternischen vergoldete Schaufensterpuppen blitzen und die dralle „Esther“ – ein Geschenk von Dalís Freund Ernst Fuchs – auf einem Cadillac steht. Wirft man eine Münze ein, beginnt es in dem Oldtimer zu regnen. Auf einer Achse hinter dem „Regentaxi“ erhebt sich eine Säule, von der Galas Boot und überdimensionierte Wassertropfen baumeln. Wiederum dahinter befindet sich hinter einer Glaswand die ehemalige Theaterbühne mit einem gigantischen Bühnenbild. Es zeigt eine androgyne Gestalt mit einem Sprung im Schädel und einem Tunnel im Bauch.


Fast ein Drittel des Dalí-Gesamterbes ist in den Fluren und Sälen drumherum versprengt – fünf Etagen mit 3D-Installationen, Gemälden, Farbradierungen und Plastiken aus den verschiedensten Schaffensphasen des überaus produktiven Katalanen: frühe Bilder wie „Die lächelnde Venus“ (1921), mit der sich Dalí im Pointillismus ausprobierte, Schlüsselwerke des Surrealismus wie „Das Gespenst des Sex-Appeals“ (1934), eine Schwarzweißfotoserie mit Schnurrbartspielereien des Exzentrikers und spätere Arbeiten wie der Mae-West-Raum (1974). Wenn man dort auf eine Empore steigt und durch eine Linse schaut, formiert sich das Mobiliar – ein knallrotes Sofa in Lippenform, ein kaminartiges, fleischfarbenes Objekt und zwei Schwarzweißbilder an der Wand – zum Gesicht von Mae West. Die Bilder werden zu Augen, der Kamin wird zur Nase, die Couch zum Kussmund, ein Vorhang zur wasserstoffblonden Lockenpracht. Dalí, der sich selbst mit Vorliebe als Skandalnudel inszenierte, hatte zeitlebens ein Faible für den Hollywood-Vamp.
Die Nummer Eins von Dalí ist aber Gala. Mal halbnackt, mal nackt, mal von vorne, mal von hinten posiert sie auf den Bildern im Theatermuseum. Und immer wieder entdeckt man eine Statistin namens Costa Brava. Vor ihrer Kulisse schmelzen die Uhren dahin, ihre schroffen Felsen staffeln sich hinter dem Sexappealgespenst, ihr Meer leuchtet himmelblau von der „Leda Atómica“, ihr goldgelbes Gestein türmt sich auf dem Kopf von Picasso, den Dalí als ein züngelndes Scheusal mit Widderhörnern porträtiert hat. Picasso soll über die Fantasie seines Landsmanns gesagt haben, sie sei wie ein Außenbordmotor im Dauerbetrieb.




Wer die Inspirationsquelle des Surrealisten sehen will, macht sich auf zum zweiten Eckpunkt des für Touristen konstruierten „Dalí-Dreiecks“ – zum Wohnsitz der Dalís bei Cadaqués. Nach 35 kurvenreichen Kilometern vorbei an Olivenhainen, Pinien und Kakteen erreicht man das Küstendorf. Dalí verbrachte in dem Ort, der mit seinen weißgetünchten Häusern und bunten Booten als einer der schönsten der Costa Brava gilt, die Sommer seiner Kindheit: badend, malend, Unsinn treibend. Nach Aufenthalten in Madrid, Barcelona und Paris kaufte er 1930 mit seiner Flamme Gala in der Bucht von Port Lligat eine Fischerkate. Vier Jahrzehnte – unterbrochen von Krieg und US-Exil – werkelte das Paar an dem Wohnsitz herum, der durch den Erwerb neuer Hütten der Nachbarschaft immer weiter wuchs. Je nachdem auch, wie die Geschäfte der beiden liefen: Er war der Paradiesvogel, sie Muse, Modell und Managerin in Personalunion.
Läuft man durch Cadaqués, ist das erste Indiz, dass es in diesem abgelegenen Flecken noch etwas anderes außer halbwegs malerischen Gassen, Boutiquen mit Hängekleidchen und steinigen Badeplätzen geben muss, ein Reisebus. Er quetscht sich durch die Passage und man selbst sich an die Häuserwand. Kurz darauf tauchen Gipsköpfe und ein Kamel aus einem Olivenhain auf, dann das ganze Dalí-Refugium. Drinnen durchstreift man einen Irrgarten aus Zimmern, Kämmerchen und Korridoren mit einem Sammelsurium aus Ziermöbeln, Tierschädeln und persönlichen Gegenständen, spaziert den phallusförmigen Pool entlang, an dem Michelinmännchen in Liegestühlen chillen und Dalí einst zu Mondscheinpartys einlud, erreicht schließlich den Garten, in dem ein Riese aus Bootsgerippe und Dachziegeln hingestreckt liegt.
Heute ist das verschachtelte Domizil von Souvenirläden umringt. Uhrenkuschelkissen, Spinnenbeinelefanten und andere Dalí-Devotionalien sind hier zu haben. Über den Camí de Ronda gelangt man weiter zum Naturpark Cap de Creus, „wo die Pyrenäen in grandiosem geologischem Taumel ins Meer fallen“, wie Dalí schrieb. Er wanderte hier oft einsam zwischen den Felsen herum, auf deren „mineralische Teilnahmslosigkeit“ er die „ganze angesammelte und chronisch unbefriedigte Spannung“ seines erotischen und emotionalen Lebens projizierte. Mal sah er in den Granitformationen ein Kamel, mal einen Hahnenkamm, mal die Brüste einer Frau, als wären sie „halluzinatorische Verwandlungskünstler aus Stein“. Tatsächlich bewegt man sich auf der Halbinsel in einem wahren Baukasten der Fantasie – zwischen bizarren Skulpturen der Naturgewalten, erschaffen durch jahrtausendelange Steinmetzarbeiten von Wind und Wasser. Das Mittelmeer hat an diesem wolkenlosen Tag ein kostbares Geschmeide angelegt. Es funkelt wie Millionen von Saphiren.





Für Dalí-Jünger steht jetzt zur Komplettierung des surrealistischen Dreiecks noch ein Ausflug zum Schloss von Gala in Púbol auf dem Programm. Stelzbeinige Elefanten, ausgestopfte Giraffen und Gewänder der Göttergattin, der Dalí versprochen hatte, sie zur Königin einer Burg zu machen, sollen in dem mittelalterlichen Castell zu sehen sein. Wer dagegen mehr von der Costa Brava fasziniert ist, wie der katalanische Schriftsteller Ferran Agulló den wilden Küstenstreifen 1908 bezeichnete, kurvt hier weiter. Um in die unberührten Buchten zu gelangen, muss man das Auto stehen lassen und sich zu Fuß durch die Macchia schlagen. Allein ist man dort unten auch im Spätsommer nicht. Weißhaarige Wandersleute stöckeln den Küstenpfad entlang, jüngere Jahrgänge schwimmen von Katamaranen herüber. Familien haben Kleinkinder, Sonnenschirme und Picknickzubehör in die Idylle geschafft, in der das transparente Blau des Himmels und das tiefe Blau des Meeres den Horizont teilen.
Je weiter man Richtung Süden fährt, umso unwilder wird es. Apartmentanlagen und Bungalows sind bis hoch in die Berghänge versprengt, weiße Klötze und Reihen im Braun und Grün, bis man am Golf de Roses ankommt und plötzlich alles flach ist. Am Abend verwandelt sich die kilometerlange Promenade in eine glitzernde Mondsichel. Bars und Restaurants buhlen mit Kampfpreisen und Speisekarten in vielen Sprachen um Kundschaft, die sich zu dieser Jahreszeit vorwiegend aus französischen und deutschen Langzeiturlaubern zusammensetzt. In Shorts und zarten Kleidern schlendern Pärchen am Strand auf und ab als wäre eine drückende Juli-Nacht und nicht schon Ende September mit 15 Grad nach Sonnenuntergang. Afrikanische Händler hoffen auf Interessenten für Taschen und Turnschuhe. Wellen schwappen friedlich ans Ufer.
Eine ganz und gar touristische Schöpfung ist Empuriabrava einige Kilometer weiter. Mit ihren Kanälen und Villen erinnert die 1967 gegründete Planstadt an ein neuzeitliches Kleinvenedig für reiche Residenten. Von den meisten der Ferienwohnungen und Luxuslebensabendburgen kann man direkt auf die Yacht fallen. 5.000 Liegeplätze gibt es in der größten Marina Europas. Besucher können ein Motorboot mieten und eine Runde durch den Hauptkanal drehen. Man schippert durch eine weiße Geisterstadt mit verrammelten Anwesen und Yachten, die „Carpe Diem“ heißen. Einige andere Touristenboote sind an diesem Nachmittag die einzigen Anzeichen menschlichen Lebens. Vielleicht liegt’s an der Dalí-Dosis, dass die Szenerie irgendwie surrealistisch erscheint.



Fotos: pa, mi (1)
IM UND UM DAS DALÍ-DREIECK HERUM
Tickets für das Casa Salvador Dalí in Port Lligat muss man vorab erwerben: https://www.salvador-dali.org/en/museums/house-salvador-dali-in-portlligat
Motorboote in Empuriabrava kosten etwa 35 Euro pro Stunde: www.losbarkitos.com
Weitere Infos zur Region: http://de.costabrava.org
Genial wie Dali! 👍
Höchst lesenswert, selbst wenn man kein ausgewiesener Dali-Fan ist …
Mir hat der Schmuck am besten gefallen, besonders das schlagende Herz :-)
Ja, die Schmuckausstellung ist – auch wenn sie im Text unerwähnt blieb – ein Juwel.
Wenn man bedenkt, daß dieser bewegliche Schmuck bereits 1960 kreiert wurde kann man Dali respektive den Juwelieren, die seine Ideen ausführten nur größten Respekt zollen. Und im Gegensatz zu Picasso war Dali in der Lage altmeisterlich zu malen.
übrigens falscher Link, hier gehts los
In Céret gibt es auch ein sehr schönes Museum für Moderne Kunst, unter anderem mit Werken von Picasso zum Vergleich
http://www.musee-ceret.com/