Fabelwesen aus Terrakotta, goldene Kaisersiegel und riesige Bronzetrommeln: Erstmals gastiert in Deutschland eine Sonderschau mit Nationalschätzen aus Vietnam. Reist man zu den Fundorten, erlebt man ein Land zwischen Fortschrittshunger und Ahnenkult, Kontrolle und kleinkapitalistischer Anarchie, konfuzianischer Emsigkeit und Gleichmut.
Der Himmel strahlt im reinsten Unschuldsblau, als wir auf dem Parkplatz von My Son im Dschungel von Zentralvietnam ankommen. Nichts erinnert mehr an die weltuntergangsartigen Wolkenbrüche der vergangenen Tage, die uns durchweichtes Gepäck, pitschpatschnasse Schuhe und Blasen an den Füßen beschert hatten. Stattdessen sticht nun die Sonne wie eine heiße Nadel, und wir bereuen es, uns nicht auf einem der Märkte mit einem Reisstrohhut eingedeckt zu haben. Kombiniert mit Plastikponchos und Schlappen, aus denen das Wasser gleich wieder ablaufen kann, sind die kegelförmigen Kopfbedeckungen die ideale Funktionskleidung für den Wankelmut des vietnamesischen Wetters. Es kommt uns also sehr gelegen, dass man uns von unserem klimatisierten Reisebus schnurstracks in Elektroautos verfrachtet und vollkommen unabenteuerlich durch den Urwald chauffiert.
Ungleich aufregender muss die Expedition von Camille Paris im Jahre 1889 abgelaufen sein. Der französische Forscher hatte vernommen, dass irgendwo am Fuße von My Son, was „Schöner Berg“ bedeutet, eine alte Tempelstadt verborgen liege. Mithilfe von Bauern schlug er sich durch das Tal und stieß auf eine Kultstätte im tiefsten Dornröschenschlaf – auf Dutzende großer und kleiner Heiligtümer aus Ziegelsteinen umschlungen von den Fängen der Natur. Dass es sich bei den Tempelgruppen um das religiöse Zentrum des mehr als 1000 Jahre währenden Champa-Reichs handelte, konnte Paris noch nicht wissen. Die Altertumskunde stand in Vietnam damals erst am Anfang.
Unseren Ausflug begleitet Tran Ky Phuong, der sich mit der Cham-Kultur so gut auskennt wie vielleicht sonst niemand. Bis zu seinem Ruhestand leitete der 66-Jährige 20 Jahre lang das Champa-Museum in Da Nang. Bereits 1978 kam der studierte Archäologe zum ersten Mal nach My Son. Er sollte dokumentieren, was der Krieg von den Tempeln übrig gelassen hatte. 1969 hatten US-amerikanische Flugzeuge das Gelände, auf dem sich Kämpfer des Vietcongs versteckt hielten, mit einem Bombenteppich überzogen. Innerhalb weniger Tage ging dadurch mehr zu Bruch als in all den Jahrhunderten davor. Etwa 80 Prozent der Bausubstanz war zerstört. Dies hielt die Unesco jedoch nicht davon ab, die Stätte 1999 als ein herausragendes Beispiel für die Einflüsse der hinduistischen Baukunst auf Südostasien zum Weltkulturerbe zu erklären.
Wir erblicken eine gepflegte Anlage mit Ruinen zwischen grasüberzogenen Kratern. Gerade zeigen Tänzerinnen vor den Trümmern der ehemals bis zu 24 Meter hohen Tempel eine Choreografie mit bunten Fächern. Die Höllenhitze ist vergessen, zu sehr ist jetzt das Vorstellungsvermögen damit beschäftigt, die einstige Pracht zu rekonstruieren, von der uns Tran Ky Phuong berichtet: die turmartigen Haupttempel mit dem Altarraum (Kalan) umgeben von Nebentempeln, die Fassaden voller Ornamente, Elefanten, Löwen und Tempelwächter, all die Tänzel- und Schlängelsymbolik, mit der die Cham hinduistischen Gottheiten huldigten – insbesondere Shiva, dem Zerstörer und Erneuerer.
Das Imperium der Champa hatte sich ab dem 4. Jahrhundert in Mittelvietnam aus dem Zusammenschluss mehrerer Fürstentümer entwickelt. Wirtschaftlich war das Staatswesen breit aufgestellt. Die Cham betrieben Ackerbau, Viehzucht und Handel mit Luxusgütern wie Gewürzen, Elfenbein und Dufthölzern. Zusätzliche Einnahmen generierte das Volk mit Raubzügen im Südchinesischen Meer, Plünderungen in den benachbarten Königreichen und Sklavenhandel. In der Blütezeit des Cham-Königreichs zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert kam es zu Auseinandersetzungen mit dem ebenfalls erstarkten Khmer-Reich im Westen. Eine Weile wurde hin und her erobert, bis ungefähr alles wieder beim Alten war.
Wir klettern weiter durch die Überreste von My Son. Manche der Tempel sind für Wiederaufbauarbeiten überdacht. Doch die Nachahmung der Cham-Baukunst – flache Ziegelsteine, die mit einem speziellen Kleber aus Baumharz verfugt worden waren – gestaltet sich schwierig, wie wir von Tran Ky Phuong erfahren. Vor einem Bauwerk, das bereits vollständig zusammengeflickt ist, erklärt uns der Archäologe die charakteristische Bauweise der Cham-Heiligtümer: Podest, Mittelbau und pyramidenförmiges Dach als steinerne Repräsentanten der irdischen, spirituellen und heiligen Welt. Anfangs hatte unsere Kleingruppe die Tempelstadt noch fast für sich alleine. Jetzt schlängeln sich Touristengruppen in Busladungsstärke durch die Steinhaufen: kamera- und sonnenhutbewehrte Asiaten, Coca-Cola trinkende Amerikaner und Mitteleuropäer in Wildnisexpeditionsmontur – ganz so, wie es den Klischees gebührt.
Ab dem 13. Jahrhundert ging es mit den Cham stetig bergab. Herrscherwechsel und Bürgerkriege schwächten den Staat von innen, dann rückten die Mongolen und schließlich die Dai Viet aus dem Norden an. Das expandierende Reich hatte sich von den Chinesen befreit und verdrängte die Cham immer weiter. Im 15. Jahrhundert wurden die Gebiete der Cham endgültig über Heiratspolitik in den Viet-Staat integriert. So galt die Region um My Son offiziell als ein Hochzeitsgeschenk für eine vietnamesische Prinzessin, mit der sich der Cham-König vermählen wollte. Heute leben in Vietnam – je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt – noch etwa 150.000 bis eine Million Cham. Sie bilden eine der 54 Minderheiten des 95 Millionen Einwohner zählenden Landes.



Wir haben unsere Reise durch Vietnam eben dort begonnen, wo sich über viele Jahrhunderte immer mal wieder das Machtzentrum der vietnamesischen Dynastien befand: in Thang Long, dem heutigen Hanoi. Am Flughafen der Hauptstadt nimmt uns Giang Thai Truong auf Deutsch in Empfang. Wie er später erzählen wird, stammen seine Sprachkenntnisse von einem achtjährigen DDR-Aufenthalt. Wie tausende anderer Vietnamesen sollte er in dem sozialistischen Bruderstaat eine Berufausbildung erhalten. Giang landete in Eisenhüttenstadt, lernte Elektriker, war danach in einem Stahlwerk angestellt und kehrte nach der Wende, als sich die Arbeitsbedingungen für vietnamesische Vertragsarbeiter verschlechterten, in seine Heimat zurück – ein Startkapital in der Tasche und zwei Motorräder im Sperrgepäck. Giang nahm in Hanoi ein Studium der Wirtschaftswissenschaften auf, arbeitete danach dies und das, bis er vor zwölf Jahren in den Tourismus wechselte. Seither führt der 49-Jährige Reisegruppen durchs Land.
Auf unserer Tour werden die Kulturschätze Vietnams im Mittelpunkt stehen, flankiert von touristischem Standardprogramm. Zu Letzterem zählt in Hanoi der Besuch bei Onkel Ho am mehr als drei Fußballfelder großen Ba-Dinh-Platz. Nachdem wir Kameras und Taschen abgegeben und uns den Anweisungen der Uniformierten folgend in Zweierreihen aufgestellt haben, erreichen wir das Mausoleum an diesem frühen Morgen fast als Erste. Doch es dauert nicht lange, bis sich hinter uns eine lange Zweierreihe aus Schulkindern gebildet hat, die weiße Hemden zu dunklen Hosen und roten Halstüchlein tragen. Dann bewegt sich die Prozession auch schon in das heruntergekühlte Monument aus Marmor und Granit, das wie die grobschlächtige Interpretation eines griechischen Säulentempels aussieht. Schnell, schnell, bloß nicht stehenbleiben, gebietet die Wache, nur ein kurzer Blick auf den Vater der Revolution in seinem gläsernen Sarkophag, ein wächsernes Männlein, das jedes Jahr im Herbst zur Balsamierungsauffrischung nach Russland reist, und schon stehen wir wieder auf dem Ba-Dinh-Platz, auf dem sich die Schulklassen jetzt zum Gruppenfoto formieren. Am 2. September 1945 erklärte Ho Chi Minh auf dem damaligen Place Puginier die Unabhängigkeit Vietnams.
Für die Schulklassen ist noch die Besichtigung der Wirkungs- und Wohnstätte des Nationalhelden im Park nebenan Pflicht. Wir reihen uns dazwischen. Nach Souvenirständen mit Miniaturmausoleen, in die ein Ho-Chi-Minh-Konterfei eingelassen ist, Bildern, die den Weißbärtigen schreibend über ein Bambustischlein gebeugt zeigen, und Ziertellern, auf denen er aus pinken Lotosblüten strahlt, gelangen wir zum sonnengelben Beaux-Arts-Palast der französischen Generalgouverneure. Anstatt in diesen einzuziehen, ließ sich Ho Chi Minh an einem Teich nahebei zwischen Palmen, Mangobäumen und Sumpfzypressen ein schlichtes Holzhaus errichten – nach dem Vorbild der Stelzenhäuser der Bergminderheiten, bei denen er sich während seines antikolonialen Kampfes immer mal wieder aufhielt. Jegliche Restzweifel an der Aktualität des Personenkults lassen sich mit einem Abstecher ins Ho-Chi-Minh-Museums beseitigen, das die Bedeutung des schmächtigen Mannes mit deutlich überlebensgroßen Statuen, vielen, vielen Fotos, abstrakten Objekten und Arrangements aus persönlichen Gegenständen, Säcken, Waffen, Kunstfeuer und Autoreifen herausarbeitet. Vieles davon wirkt auf uns sehr geheimnisvoll, schon wegen der minimalistischen Beschriftungen, und so kommen wir aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.





Nur ein kleiner Spaziergang ist es vom Ho-Chi-Minh-Gedenkkomplex bis zum Literaturtempel, den man ebenfalls gesehen haben muss. Inzwischen hat kräftiger Regen eingesetzt, der uns fortan ein treuer Reisegefährte sein wird. Vom Hupkonzert der motorrollergefluteten Straßen tauchen wir durch das von steinernen Drachen bewachte Portal in eine Oase der Ruhe ein. Im diffusen Licht des Regentages wirkt die fast 1000 Jahre alte Anlage, die sich über fünf Höfe mit moosbedeckten Zeremoniehallen, kunstvoll getrimmten Hecken und dem Konfuzius-Tempel erstreckt, wie eine Tuschezeichnung aus längst vergangenen Tagen. Man muss sich nur die Souvenirshops und Selfie-Sammler wegdenken. Über acht Jahrhunderte büffelte im Literaturtempel die geistige Elite des Landes. Um den See des Himmlischen Lichts im dritten Innenhof sind auf 82 Stelen die Namen von 1307 Absolventen der kaiserlichen Prüfungen eingraviert. Die Stelen stehen auf dem Rücken von steinernen Schildkröten. Neben Drache, Phönix und dem Drache-Löwe-Fisch-Mischwesen Kylan gehören Schildkröten zum Quartett der heiligen Tiere Vietnams. Sie symbolisieren Stärke und Beständigkeit.
Diesen Prinzipien folgt auch der Regen. Anderntags waten wir durch die Zitadelle Thang Long, die in der Ly-Dynastie unter König Ly Thai To nach dem Vorbild chinesischer Kaiserstädte errichtet wurde. „Es war ein gelber Drache, der aus den Fluten aufstieg und dem König zeigte, wo er seine Hauptstadt bauen sollte“, erläutert unser Guide Giang. Später, das sei an dieser Stelle zugegeben, werden wir in der Gemengelage aus Dynastien, Legenden, Kampfstrategien, Hauptstadtverlegungen und Grenzverschiebungen plus der Akteurspalette aus Drachen, Prinzessinnen, Helden und Bösewichten irgendwann den Überblick verlieren. Als man zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit den Arbeiten für den Neubau der Nationalversammlung begann, wurden Teile des historischen Geländes von Thang Long wiederentdeckt. Seitdem laufen archäologische Ausgrabungen, und seit 2010 trägt der Zentralbereich der alten Kaiserresidenz das Weltkulturerbeprädikat der Unesco.
Östlich von der Zitadelle liegt die Altstadt. Sie war dereinst das Viertel der 36 Zünfte – eigens dafür konzipiert, die Versorgung des Hofstaats sicherzustellen. Wer jetzt denkt, dass da heute nicht mehr viel los ist, liegt falsch. Die Altstadt von Hanoi ist nicht lauschig, nicht verkehrsfrei, keine Schmuckschatulle mit strahlenden Fassaden, keine museale Staffage, aus der sich die Einwohner zurückgezogen haben, weil ihnen die Mieten zu teuer oder die Touristen zuviel wurden. Nein, Hanois Altstadt ist quicklebendig und ultrageschäftig, ein modriges Gassenlabyrinth mit bis zu 90 Meter tiefen „Tunnelhäusern“, die oft nicht viel mehr als eine Armspanne breit sind, ein schummriger Irrgarten aus engen Fluren, Treppchen und Zimmerchen auch innen, Steuerrecht und Erbteilung haben diese grotesken Proportionen hervorgebracht. Wie in einem urbanen Dschungel fühlen wir uns, als wir durch die trampelpfadschmalen Straßen vorbei an üppig begrünten Balkons und Balkönchen streifen, durch einen Wald aus Satellitenschüsseln, Drähten, Antennen und Lautsprechern der Kommunistischen Partei, überall bröckelnde Häuser, manche scheinen nur noch von den Stromkabeln zusammengehalten zu sein, die wie Schlingpflanzen über die Fassaden wuchern und manchmal so tief hängen, dass man sich mit dem Regenschirm darin verheddert.
Noch heute ist das Viertel eine riesige Freiluftshoppingmall, wenngleich mit veränderter Warenlandschaft. Aus den Straßen der Silberschmiede, Seidenfärber und Segelmacher sind die Straßen der Plastikspielzeugverkäufer, Markenfälscher und Devotionalienhändler geworden. Wir entdecken Spezialgeschäfte für Glücksschweine, Reisstrohhüte, Klebeband, bonbonbunte Mopedhelme und Mückenwedel aus Pferdeschweif. Jeder ebenerdige Raum ist ein Café, ein Massagesalon, eine Karaokebar, noch auf dem schmalsten Gehsteig gastiert ein mobiler Frisör, ein Grabschmuckverkäufer, eine Garküche oder eine andere Ich-AG. Wo dann noch ein Quadratmeter frei ist, hocken die Hanoier auf Plastikschemelchen um Plastiktischchen und löffeln die Reisnudelrindfleischsuppe Pho Bo – morgens, mittags, abends. Zwischen dem ganzen Ameisenkapitalismusgewimmel entdecken wir hier und da Bäume mit Altären, vor denen Früchte, Schnapspullen und Zigaretten als Zehrung für die Ahnen liegen, die nach der Vorstellung vieler Vietnamesen als Geister weiterexistieren und der Versorgung durch die Lebenden bedürfen. Und wir sehen viel Reklame, von asiatischen Unternehmen, aber auch von Weltkonzernen. Seit den Reformen Ende der 1980er Jahre hat das Land seine Wirtschaftspolitik sukzessive um marktwirtschaftliche Komponenten erweitert. Giang sagt, man bezeichne das Ganze jetzt als „Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung“.
Am westlichen Altstadtrand gelangen wir zur „Rail Street“, die von den Anwohnern als verlängerter Wohnraum genutzt wird. Hunde tollen auf dem Gleis, links und rechts brutzeln Pfannen und brodeln Töpfe, Frauen zupfen Koriander, Männer rupfen Hühner. Tagsüber kann man sich hier ohne Gefahr aufhalten, da enden die Züge in einem Bahnhof an der Long-Bien-Brücke. Nur von abends bis morgens bestehen Verbindungen bis zum Hauptbahnhof, an dem die Fernzüge in den Süden des Landes starten. Fast 40 Stunden dauert die Fahrt bis ins 1726 Kilometer entfernte Saigon, offiziell Ho Chi Minh Stadt genannt. Von der Long-Bien-Brücke – eine Stahlkonstruktion des Büros Gustave Eiffel und mit 1,7 Kilometern vormals die längste Brücke Indochinas – kann man erkennen, dass Hanoi keine geschlossene Asphalt- und Betondecke ist, sondern vielmehr ein Patchworkteppich aus grauen, grünen, braunen und blauen Flicken. Die Stadt ist durchsetzt mit Parks und Plantagen, in denen Bananen, Maniok und Wasserspinat angebaut werden, es gibt mehrere Seen und natürlich den Roten Fluss, der unter der Long-Bien-Brücke strömt, allerdings eher bräunlich als rötlich.
Auf der Brücke strömt, wie überall in Hanoi, der Mopedverkehr. Noch bis in die hintersten Altstadtwinkel flutet der Zweiradfluss und grundiert die Geräuschkulisse der Stadt mit einem Brummen, über das sich ein schrilles Dauergehupe legt. Auf die acht Millionen Hanoier kommen rund fünf Millionen Motorroller – kein Wunder bei dem rudimentären öffentlichen Nahverkehr, der nur aus einigen Buslinien besteht. Schon vor vielen Jahren hat die Straßenbahn ihren Betrieb eingestellt, eine U-Bahn gibt es nicht. Als Fußgänger sollte man sich immer bewusst sein, dass man in der Verkehrshackordnung hinter Autos, Motorrädern, Rikschas, Fahrrädern und Ochsenkarren ganz unten rangiert. Für Ampeln und Zebrastreifen gilt: Man sollte ihnen keine allzu große Bedeutung beimessen. Will man die Straßenseite wechseln, muss man sich zielstrebig durch die Mopedschwärme hindurchfädeln, das bedeutet, auf gar keinen Fall zwischendrin stehen zu bleiben, denn Zögern stört die innere Ordnung und könnte zu Massenkarambolagen führen. In diesem Moment würde sich zeigen, wie gut oder schlecht die Sachen verschnürt sind, die auf den Motorrädern transportiert werden. Meist sind es viele Sachen – abenteuerliche Türme aus Körben, Kegelhüten, Korianderbüscheln, Eierkartons, Getränkekisten oder Möbelstücken, auch tote oder lebendige Gänse, Hunde und Schweine klemmen auf den Gepäckträgern. Selbst an Starkregentagen wie heute ist in der Innenstadt die Hölle los. Verpackt in Plastikponchos und vermummt mit Mundschutz gegen die Abgase spritzen die Rollerfahrer durch seengleiche Straßen.
Wir waten weiter zum nächsten Programmpunkt, dem Nationalmuseum. Es befindet sich in einem Kolonialbau, der früher ein französisches Institut für archäologische Forschungen beherbergte, und eröffnet eine Reise in die Vergangenheit des Landes bis zur Frühgeschichte. Danach dürfen wir noch einen Blick in den Keller werfen, in dem gerade 100 besonders wertvolle Artekfakte des Nationalmuseums und rund 300 weitere Exponate aus sieben Provinzmuseen von deutschen und vietnamesischen Experten begutachtet, fotografiert, gelistet und in speziell angefertigte Kisten verpackt werden, um im klimatisierten Flugzeug für die Sonderausstellung „Schätze der Archäologie Vietnams“ nach Deutschland zu reisen – erst nach Herne, dann nach Chemnitz und schließlich nach Mannheim. Einige Nationalschätze sind dabei, die noch nie außerhalb des Landes zu sehen waren und für deren Ausfuhr die Genehmigung des Premierministers eingeholt werden musste.
Zehn Jahre haben die Vorbereitungen für die Exposition gedauert, berichtet die Kulturdezernentin des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe, Barbara Rüschoff-Thale, die uns durch Vietnam begleitet. „Wir wollten mal ein ganz anderes Thema angehen“, erklärt die Archäologin, „abseits von Klassikern wie Ägyptern, Römern oder Wikingern.“ Im Fokus der Ausstellung stehen nicht die Funde aus der Periode unter französischer Kolonialverwaltung, sondern neuere Entdeckungen vietnamesischer Altertumsforscher, darunter riesige Bronzetrommeln aus der frühen Dong-Son-Kultur, ein fünf Kilogramm schweres Kaisersiegel aus purem Gold, tönerne Drachen- und Phönixschmuckziegel aus der Kaiserstadt Thang Long und Götterskulpturen aus Sandstein von der Kultstätte My Son. „In keinem anderen südostasiatischen Land haben in den vergangenen Jahrzehnten so viele Ausgrabungen stattgefunden wie in Vietnam“, weiß Rüschoff-Thale. Schon seit DDR-Zeiten arbeiten deutsche und vietnamesische Archäologen zusammen. Die erste gemeinsame Expedition führte 1946 zu Höhlensystemen an der südchinesischen Grenze. Fast vier Tage dauerte die Flugreise des deutschen Teams von Erfurt über Berlin, Moskau, Omsk, Irkutsk, Peking, Wuhan und Nanning nach Hanoi. Unser Nonstop-Flug von Frankfurt nach Hanoi brauchte keine elf Stunden.





Und nur eine gute Stunde beträgt die Flugzeit nach Da Nang in Mittelvietnam. 1965 gingen hier am China Beach die ersten Kampftruppen der Amerikaner an Land. Heute arbeitet die fünftgrößte Stadt Vietnams mit Feuereifer an ihrer Positionierung als Badeurlaubsdestination. Auf der Weiterfahrt Richtung Süden passieren wir feinsandige Strände und Bautafeln, die von noblen Ferienanlagen künden. Alsbald erreichen wir eine weitere Weltkulturerbestätte, die Küstenstadt Hoi An am Thu-Bon-Fluss. Sie war einmal der größte Handelshafen Südostasiens, in der sich erst Chinesen und Japaner, später auch Holländer, Franzosen und Briten einfanden, um ihre Schiffe mit Tuch, Seide, Porzellan und Papier zu beladen und eigene Niederlassungen zu gründen. Als im 19. Jahrhundert der Fluss versandete, rückten die Handelsunternehmen wieder ab. Im Krieg war der Ort dann zu bedeutungslos, um ins Visier zu geraten. So blieb das Gemisch erhalten – chinesische Versammlungshallen, quietschbunte Tempel mit Opferschalen, Bonsaibäumchen und Zierteichen, die Japanische Brücke und Kaufmannshäuser mit Balustraden und dunklen Holzbalken.
Heute ist die von Reiseführern als „Freilichtmuseum“ gefeierte Altstadt ein lampiongeschmückter Touristenmagnet mit opulentem Andenkenangebot. Das Fachgebiet von Hoi An ist maßgeschneiderte Kleidung – Hemden, Kleider, ganze Anzüge werden über Nacht in den Nähstuben gezaubert und auf Wunsch sogar ins Hotel geliefert. Alle paar Meter sieht man eine Schneiderei, in der sich Touristen vermessen lassen, dazwischen drängen sich Cafés, Restaurants und Läden mit Schuhen, Schmuck und Seidenlampions. Die Altstadt von Hoi An ist zum Teil motorrollerfreie Zone, allerdings muss man aufpassen, nicht mit Rikschakolonnen zu kollidieren, in denen sich vorwiegend japanische Besucher durch die Menschenmassen kutschieren lassen. Viele Touristen tragen Regencapes in Bonbonfarben, so dass auch an Platzregentagen wie heute nichts trist wirkt in dem vergnügungsparkatmosphärischen Areal.
Gleich außerhalb spielt sich normales vietnamesisches Kleinstadtleben ab, mit Wasserbüffelkarren, Mopedgebrumme und Mopedgehupe. Sehenswert ist die Markthalle, in der man durch Tunnel aus Gewürzstapeln, Nussbergen, Säcken mit getrockneten Garnelen und Girlanden mit Staubwedeln trudelt. Das Päckchen Kaffee ist hier um ein Vielfaches günstiger als in den Souvenirgassen. Durch ein spezielles Röstverfahren erhält der vietnamesische Kaffee sein köstliches Aroma. Er schmeckt nach einer Nuance Schokolade und wird schwarz, mit karamellisierter Kondensmilch, Eischaum oder Eis serviert. Um die Markthalle herum schweben die Gerüche der Garküchen. Die regionalen Spezialitäten heißen Cao Lau (Reisnudeln mit Schweinefleisch, Sojasprossen und Kräutern), Banh Bao Banh Vac (Teigtaschen mit Garnelenfleischfüllung) und Banh it la gai tran (eine Paste aus Klebereismehl, grünen Bohnen und Kokosraspeln).
Von Hoi An, das bis zum Untergang des Cham-Königreichs Lam Ap Pho (Champa-Stadt) hieß, fahren wir in den Dschungel nach My Son. Nichts von der Tempelstadt erinnert an die Bauweise und Kulturideale im Norden: chinesische Einflüsse dort, indische hier. Ausrichtung an einer Nord-Süd-Achse in der Zitadelle Thang Long, Tempelgruppen in My Son. Massives Mauerwerk dort, filigraner Ziegelbau hier. Drachen, Schildkröten und Konfuzius-Statuen im Literaturtempel, tanzende Götterfiguren und Makara-Mischwesen aus der hinduistischen Mythologie in den Cham-Kultstätten. Die Sonderausstellung in Deutschland spannt den Bogen von Nord- bis nach Südvietnam, von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Sogar eine acht Meter hohe Fassade eines Cham-Tempels ist unter den Exponaten, nachgebaut aus Leichtholzplatten, auf denen computergenerierte Illusionen von Ziegeln inklusive Spuren der Jahrhunderte aufgebracht sind.
ZU DEN KULTURSCHÄTZEN VIETNAMS
Die Ausstellung „Schätze der Archäologie Vietnams“ ist noch bis zum 20. August im Staatlichen Museum für Archäologie in Chemnitz zu sehen. Vom 16. September 2017 bis zum 7. Januar 2018 gastiert sie dann in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim. Der Reiseveranstalter Gebeco hat anlässlich der Exposition die 14-tägige Erlebnisreise „Kulturschätze in Vietnam und Kambodscha“ aufgelegt, die zu Fundstellen wie Thang Long und My Son führt.






Fotos: pa
Ganz wunderbarer erzählt, anschaulich, lebendig und mit wohl dosierter Ironie. ;-) Danke auch für den Ausstellungshinweis, merke mir Mannhem vor. Vietnam steht sowieso längst auf meiner bucket list.
Die Ausstellung kann ich zwar (noch) nicht aus eigener Erfahrung empfehlen, aber ich habe dazu bisher nur sehr positive Rezensionen gelesen.
Wow danke für den informativen bericht!! in saigon warst du nicht oder? ist empfehlenswerter als hoi an …
Nein, bis nach Ho Chi Minh Stadt/Saigon sind wir leider nicht gekommen. Deiner Empfehlung würde ich mich sonst sicherlich anschließen.
Ho Chi Minh – geht ja noch. War wenigstens kein Heuchler (Stichwort Wasser predigen, Wein saufen). Aber gibt es eigentlich auch Pol-Pot-Stadt? Im nicht so fernen Kambotscha? Links und Terror gehört ja zum globalen Zeitgeist, derzeit. Die Vietnamesen bei uns im Ort sind übrigens extrem fleißige und freundliche Menschen. Sehr unwahrscheinlich, dass es Kommunisten sind. Keiner, der sich den Puckel krumm arbeitet, gibt den Lohn des Fleißes gern an Müßiggänger ab.