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Auf nackten Sohlen über Marmor, Teakholz und Affenkot


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Pagoden, Tempel und Stupas zu Abertausenden, geweihte Felsen und Berge, auf denen Geister hausen: Myanmar ist geradezu übersät mit buddhistischen Heiligtümern. Schuhe und Strümpfe sind in den Stätten verboten, so dass man insgesamt oft barfüßig unterwegs ist. Und es dauert nicht lange, da will man auch gar nicht mehr anders.

Schon am zweiten Tag war es mir verdammt egal. Meine Füße hatten sich in zwei rettungslose Dreckspatzen verwandelt, verschwitzt und nahtlos paniert mit dem graubraunen Staub der Straßen von Bagan. Die Reinigungstücher, die wir nach jedem Tempelbesuch bekommen hatten, waren ungebraucht in meinem Rucksack gelandet. Für später, für irgendwann. Dann, wenn es sich lohnen würde. Erst beim Auspacken in Deutschland fielen mir die Päckchen wieder in die Hände.

Denn in einem Land, das mehr als achtzigtausend Heiligtümer besitzt, ist nach dem Tempelbesuch vor dem Tempelbesuch nach dem Tempelbesuch. Allein die Felder von Bagan sind mit über zweitausend Pagoden, Tempel und Stupas gespickt – rostroten, goldenen und blendend weißen, mächtigen, prächtigen und schlichteren, großen, kleineren und ganz kleinen. Viele davon sehen noch recht frisch aus, als wären sie erst kürzlich aus der Erde herausgeplatzt wie himmlisches Popcorn, verschwenderisch über die rotbraunen Äcker ausgeworfen von der millionenstarken Schar zutiefst gläubiger Myanmaren. In Wirklichkeit ereignete sich 1975 ein schweres Erdbeben in der Region. Zwischen den echt alten Tempeln aus dem Mittelalter, als Bagan eine der größten Städte und Hochburg des Buddhismus war, stehen nun auch zahlreiche Rekonstruktionen.

Während wir also durch diesen unfassbaren Reichtum der Jahrhunderte mäanderten, raus aus dem klimatisierten Bus, rein in die sengende Hitze, den Staub und die Tempelanlagen und zurück und wieder von vorne, kam ich bald zu dem Schluss, dass das Sohlenpolieren bei einem Sightseeing-Marathon in Myanmar ungefähr so sinnreich ist wie jede andere Arbeit nach Art von Sisyphus. Nach dem x-ten Mal Sneakers auf- und zuschnüren konnte ich mich auch mit der Erkenntnis synchronisieren, dass Flip-Flops die einzig tauglichen Treter für Tempel-Hopping in tropischen Zonen sind – leicht, luftig und blitzschnell an- und auszuziehen. Bisher war mein Verhältnis zu den Plastikschlappen eher problematisch gewesen, zählte ich sie doch zu den typischen Insignien jener Touristen, die es nicht despektierlich finden, wie ein Entenschwarm durch ehrwürdiges Kulturerbe zu watscheln und dabei meist auch noch lauthals zu schnattern.

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Fotografenpech: Dunst über den Tempelfeldern von Bagan
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Sneakers sind für Tempel-Hopping nicht geeignet, sehr bald tauschte ich sie gegen Flip-Flops ein.

In Myanmar nahmen mir die Einheimischen jedoch sämtliche Banausentumbedenken: Slipper aus Leder, Kunstleder oder Plastik sind das Schuhwerk der Nation. Vor den Pagoden liegen die Latschen zuhauf herum, geduldig darauf wartend, bis die Besitzer von ihren Andachtsbekundungen zurückkehren – manche früher (niederknien, Geldspende und weg), andere später (niederknien, Blumenketten oder sonstige Gaben opfern, Glücksbringer wie Pferdeskulpturen streicheln, die Goldschwimmringe der oft schon bedenklich adipösen Buddhafiguren mit Blattgoldplättchen bekleben) und manche noch später (hinwerfen, aufstehen, hinwerfen, aufstehen, hinwerfen …).

Man muss sich zwar sorgen, seine Flip-Flops in dem Tohuwabohu vor den Tempelanlagen wiederzufinden, nicht aber darum, dass sie verschwinden. Kriminalität sei in seinem Land praktisch nicht vorhanden, erfuhren wir von unserem Guide Hla Cung Lian, der sich für ausländische Besucher schlicht Robert nennt. Denn die Sünder müssten mit drakonischen Strafen rechnen – sowohl in diesem als auch in einem der nächsten Leben, von denen die Buddhisten ja in irgendeiner Form ausgehen.

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Eine von vielen Barfußzonen: die weiß-goldene Kuthodaw-Pagode in Mandalay
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Manche Buddhafiguren sind durch die vielen Blattgoldspenden schon ziemlich fettleibig geworden.

Eine Reise nach Myanmar ist eine Reise in ein Land, in dem Disney und Starbucks noch nicht omnipräsent sind, stattdessen aber bescheidene Hütten aus Bambusflechtwerk, Schlaglochstraßen und Bauern mit Kegelhüten. Ochsenkarren, Pferdekutschen, Klapperbusse und tattrige Dreiräder. Männer in Wickelröcken und Frauen, die sich das Gesicht mit einer hellgelben Paste aus Baumrinde für die Schönheit und als Schutz gegen die Sonne schminken. Pilger, die ihr weniges Geld lieber in Gaben und Glücksbringer investieren als ins Glücksspiel. Und überall die chaotischen Märkte mit Bergen nie gesehener Kräuter, Früchte und Rüben, barbarisch zerstückelten Hühnchen und angegammelten Fischen, aus denen eine kräftige Sauce kredenzt wird (Robert: „Stinkt höllisch, schmeckt himmlisch“).

Und die Reise führt in eine Welt, in der man irgendwann nicht mehr weiß, was man glauben soll. Etwa die Legende der Pa-O, die auf ihren Häuptern drachenkopfförmige Turbane in knalligen Farben drapieren, weil sie glauben, von einem Lindwurm und einem Schamanen abzustammen, wie uns eine junge Frau der ethnischen Minderheit mit dem strahlendsten, bezauberndsten und wahrhaftigsten Lächeln erzählt?

Oder die Mär, dass sich der frühere Militärdiktator Than Shwe von seinen Sternendeutern einflüstern ließ, er müsse seinen Regierungssitz aus Yangon verlegen, andernfalls seine Macht einstürzen würde wie ein Kartenhaus, was ihn dazu veranlasste, eine neue Hauptstadt fernab jeder Zivilisation aus dem Boden zu stampfen, Naypyidaw, wo nun auch ein neuer Flughafen entsteht. Eine andere Version besagt, dass Than Shwe abseits der angespannten Lage in Yangon schalten und walten wollte. Angeblich folgte der abergläubische Herrscher auch einem Rat der Astrologen, als er in einer Hauruck-Aktion den Straßenverkehr von links auf rechts umstellte, was zu massenweise Unfällen führte.

Und dann sind da auch noch die vielen Geschichten und Riten, die sich um die myanmarischen Geister drehen. Am Flughafen bekamen wir Blumenarmbänder übergestreift, auf dass uns die übernatürlichen Wesen auf unserer Reise beschützen, was übrigens tadellos funktionierte. In unserem Bus baumelte eine Jasminblütenkette – „zur Vertreibung der bösen Autogeister“, wie Robert aufklärte. In fast jedem Haus gebe es einen Altar für die Anbetung der Geister, und mindestens einmal im Leben müsse man als Buddhist auch auf den Olymp der Nats pilgern, den heiligen Mount Popa bei Bagan, an dem kein Alkohol und kein Schweinefleisch erhältlich ist, weil es die Geister in Rage bringen würde oder vielleicht auch auf eine der vielen Palmen, die der Herstellung von Zucker und Palmwein dienen.

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Riechen nicht nur besser als Duftbäume, sondern vertreiben auch noch böse Geister: Blütenketten

Bis zum Gipfel des Mount Popa, der aussieht, als wäre er mit einem ovalen Förmchen aus einem großen Felsen gestanzt, sind es 777 Stufen. Die meisten davon muss man auf bloßen Sohlen zurücklegen und sich dabei konzentrieren, nicht in Affenkot zu treten – was aber gelingen kann. Jedenfalls habe ich mir keine Parasiten eingefangen, wovor die Reiseführer kollektiv warnen.

Ob die Affen nur scharf auf die Gaben der Gläubigen sind oder auch das Wallfahrtsgewimmel unterhaltsamer finden als ihren natürlichen Lebensraum in den Wäldern, wurde uns nicht ganz klar. Auch nicht, warum sich die frechen Klettermaxe brennend für die Kameras und Taschen der Touristen interessierten, nicht aber für die Souvenirstände voller toller Spielgeräte wie Buddhas in regenbogenfarben blinkenden Goldglitterschneekugeln, paillettenbesetzten Marionetten und langen Holzperlengebetsketten.

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Bis zum Gipfel des Mount Popa müssen …
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… 777 Stufen bewältigt werden.
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Die Geister scheinen ein feines Leben zu führen, jedenfalls mangelt es ihnen nicht an Geld und Wasser.

Seit sich das Land aus der Diktatur in die Demokratie bewegt, explodiert der Tourismus. Der Ausbau der Infrastruktur hält bei dem Tempo nicht ganz mit, Hotels mit internationalem Standard sind mittlerweile ebenso knapp wie qualifiziertes Personal. Robert ist auf den Zug aufgesprungen. Nachdem sich sein Studium der Mathematik als brotlos erwies, lernte er Deutsch und wurde Touristenführer. Der 37-Jährige stammt aus den Bergen im Nordwesten an der Grenze zu Indien und Bangladesch, wo die Chin zuhause sind, einer von acht Volksstämmen Myanmars. Die Chin sind Baptisten, und wenn Robert seinen Gruppen mit einem verschmitzten Lächeln die buddhistischen Geistergeschichten erzählt, weiß man nie genau, wie viel er davon eigentlich selbst glaubt.

Auch wenn man laut Robert keine Sicherheitsbedenken haben muss, das Land auf eigene Faust zu erkunden, empfiehlt er den Reisenden einen Guide – zum Übersetzen, denn längst nicht alle seiner Landsleute beherrschten die Amtssprache Birmanisch, geschweige denn Englisch. „Wir haben mehr als 130 ethnische Gruppen und sehr viele Dialekte.“ Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten sind inzwischen allerdings auch in Englisch beschildert, nicht nur mit der putzigen birmanischen Kringelschrift.

Und auch sonst bleibt nichts, wie es ist, und es wäre dem Land ja auch nicht zu wünschen, nur weil der Anblick eines längst verloren geglaubten Idylls der Selbstgenügsamkeit, des Einklangs und stillen Glücks das Herz lärm- und leistungsdruckgewöhnter deutscher Großstädter mit tiefem Frieden erfüllt, welch ungeheuerliche Anmaßung wäre denn das. Und es ist natürlich auch längst nicht alles nur Friede, Freude und Frömmigkeit mit holdem Glockenspielgebimmel, Palmweinschlürfen, Bethelnüssekauen und Bilderbuchlandschaften aus dschungelartigen Wäldern, Mangobäumen und Reisfeldern. Auf dem Land müssen die Menschen Tag für Tag um ihr Trinkwasser kämpfen, nur zweimal werden die Brunnen für kurze Zeit geöffnet. Die medizinische Versorgung ist unterirdisch, was einen dazu neigen lässt, diese eine Geschichte wirklich zu glauben: dass sich die Frauen gegen die Schmerzen beim Kinderkriegen mit Palmwein betrinken.

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Ochsenkarren auf dem Weg zum Trinkwasserholen

Nein, die Zeichen des Wandels sind kaum zu übersehen. Nicht die Bilder der Nationalheldin Aung San Suu Kyi, die nun überall hängen, vor wenigen Jahren jedoch noch eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten konnten. Nicht die Souvenirhändler, die bereits an allen wichtigen Sehenswürdigkeiten anzutreffen sind und ihrer Verkaufstätigkeit manchmal schon so aufdringlich nachgehen wie ihre Kollegen in touristisch langjährig erprobten Ländern. Nicht die Jugendlichen mit ihren gestylten Wuschelfrisuren, Totenkopf-T-Shirts und Schlabberhosen statt den traditionellen Longyi-Wickelröcken. Nicht die Mönche mit modernster Kamera- und Kommunikationsausrüstung. Nicht die monströsen Satellitenschüsseln und die Reklame für Bier, Zahnpasta und Grand-Royal-Whisky an den armseligen Pfahlhäusern im Inle-See.

In Yangon wurde nun auch der Bau eines Hochhauses beschlossen, das als erstes das Wahrzeichen Myanmars überragen darf, die Shwedagon-Pagode, diesen funkelnden Himalaya aus tonnenweise Gold, Saphiren, Rubinen und Diamanten, umringt von Pagoden und Pavillons, Stupas und Skulpturen, Opferschalen, Weihwasserbrunnen und Devotionalienständen.

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An der Shwedagon-Pagode holt man sich keine dreckigen Füße, emsige Putzkolonnen halten das Heiligtum sauber.

Wieder und wieder fragte ich mich, ob das nun gut oder schlecht ist, schwarz oder weiß, Segen oder Fluch, und fand das ganze dualistische Denken zugleich auch furchtbar unsinnig, weil es doch gar nicht zu einem Land passt, das sich so stark an den Lehren des Buddhismus orientiert, nach denen ja Gleichklang erstrebenswert ist, um es mal ganz grob zu sagen.

Und dann stand ich immer wieder dort mit bloßen Füßen, auf den sonnenwarmen Marmorplatten der Tempelanlagen in Mandalay, in einem pfirsichorangen Sonnenaufgang am Inle-See, in jahrhundertealten Klöstern mit knarzenden Teakholzböden und vor gigantischen Buddhafiguren, deren Goldspeck schon eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit darstellen muss, obwohl es die Menschen natürlich nur gut meinen mit ihrer eifrigen Blattgoldkleberei. Als ich also dort stand, wusste ich plötzlich doch, was ich glauben soll – dass alles fließt und sich irgendwie in ein großes Ganzes fügen wird, jenseits aller Grenzen von Raum und Zeit.

Wahrscheinlich hatten die metaphysischen Anwandlungen auch mit dem vielen Barfußlaufen zu tun, macht es einen doch irgendwie leichter, empfindsamer und empfänglicher für – ja, was eigentlich alles genau? Positive Geisterenergie? Den Sanftmut und die Warmherzigkeit der Wallfahrer? Die Stille und Schönheit der Wälder, Berge und Seen? Die Buddhakolosse, deren stoische Blicke mir das Gefühl verliehen, bestenfalls die Größe und Wichtigkeit eines Wurms zu besitzen? Die Kinderaugen, aus denen mir Arglosigkeit in ihrer reinsten Form entgegenstrahlte? Wahrscheinlich war es von allem ein bisschen. Zum Glück ist jetzt erst mal Sommer. Flip-Flop-Zeit, Barfußzeit, juchhe!

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Kloster aus Teakholz am Inle-See
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Das Schuhwerk der Nation: Flip-Flops
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Auch die sagenhaft schöne Tempelanlage von Kakku darf nur barfüßig durchschritten werden.
Fotos: pa

IM LAND DER FLIP-FLOP-TRÄGER
Weitere Informationen gibt es auf der Website des Tourismusministeriums von Myanmar unter www.myanmartourism.org und bei der Myanmar Tourism Federation unter www.tourismtransparency.org.